Der Kannibalenclan
dessen Menschen mit dem Alkohol verbündet sind? Wo kann man ihn noch sehen, den Stolz der Menschen aus vergangenen Tagen? Was bleibt, sind Menschen, die sich den halbherzigen Schwüren ihrer Machthaber ergeben haben.
Sascha Spesiwtsew oder seine Mutter im härtesten Straflager Sibiriens besuchen zu dürfen, eine Besuchserlaubnis für diese Institution des Grauens zu bekommen, schien für einen Ausländer lange Zeit unmöglich. Auch wenn der Staatsanwalt eingewilligt hätte, die Erlaubnis dazu kann nur der Ermittlungsrichter ausstellen – und von dem ist normalerweise nichts zu erwarten.
Dennoch: Allen Hindernissen zum Trotz fährt bald ein blaues Taxi den sandigen, steilen Weg hinab zu dem Backsteingebäude, das einer Fabrik gleicht. Der zweistöckige Bau beherbergt die Verwaltung des Lagers. Durch ein riesiges Eisentor im Untergeschoss kommen die künftigen Gefangenen an. Die meisten von ihnen verlassen dieses Gebäude nicht mehr lebend. Genau vor dem Tor bleibt der Fahrer stehen, nicht ohne seinem Fahrgast »Alles Gute für die Zukunft« zu wünschen.
Dann folgt minutenlanges Schlüsselrasseln, bis sich das Tor öffnet und den Weg zum Haupttrakt des Lagers freigibt.
Unzählige Gittertüren werden auf- und zugesperrt in den geisterhaft wirkenden Gängen. Links und rechts sind in gleichmäßigen Abständen schwere eiserne Zellentüren eingelassen. Kein Ton dringt von innen auf den Gang. Es ist kein schöner Ort.
Am Ende des Ganges befindet sich das Büro des Direktors, des Herrn über diese sibirische Vorhölle. Ein älterer Lagerwärter weiß einige Anekdoten zu berichten und verkürzt einem die lange Wartezeit.
»Früher, vor der Perestroika, kamen hierher die schwersten Verbrecher aus ganz Russland. Dieses Lager war gefürchtet im ganzen Land. Wer hierher verbannt wurde, hatte meist schon mit seinem Leben abgeschlossen. Denn begnadigt wurde hier keiner. Schwerste Arbeit bei minimalen Essensrationen war hier die Devise. Was sollte man auch noch Geld ausgeben für diese Halunken. Viele starben an Krankheiten, viele an Erschöpfung. Den Frauen – denn auch die kamen hierher –
erging es nicht besser. Meist überlebten sie das Lagerleben nicht sehr lange. Doch die Regierung sorgte schnell für Nachschub. Oft waren wir überbelegt, teils mussten die Gefangenen in den langen Gängen schlafen, da die Zellen allesamt überfüllt waren.«
Gemütlich lehnt er sich in seinem Stuhl zurück, kaut auf einer undefinierbaren Masse. Und erzählt weiter, mit Genuss, sich seiner plötzlichen Hauptrolle sehr bewusst: »Aber mich geht das ja alles bald nichts mehr an. Bald gehe ich in Rente.
Ich bin froh, wenn ich das hier dann alles hinter mich gebracht habe. Es war nicht leicht, nie… was glauben Sie, was ich Ihnen alles erzählen könnte.«
Man glaubt ihm gern. Aber erzählen will er dann doch nichts. »Nein, nein, ich werde Ihnen gar nichts erzählen aus dieser Zeit. Ich möchte doch meine Rente nicht aufs Spiel setzen, das müssen Sie schon verstehen. Wissen Sie, ich habe neun Enkel, und auf die freue ich mich besonders. Die sollen doch noch etwas haben von ihrem Großvater, oder?«
Genug erzählt – er wendet sich ab, zuckt sogar kurz zusammen, als sich eine Tür öffnet. Sie scheint in die Zentrale zu führen, in das Büro des Mannes, der über das Lager herrscht. Der Besucher wird hineingebeten und für einen kurzen Moment allein gelassen. Nachdem man am Schreibtisch Platz genommen hat, betritt ein Mann den Raum. Wladimir Romanow, der Lagerdirektor von Nowokusnezk. Er ist sich seiner Stellung bewusst Der große, schlanke Mann mit der korrekten Uniform hält sich sehr gerade. Er weiß, wer er ist und welche Bedeutung seine Arbeit hier hat. In seinem großen Ledersessel sitzend, im graugrünen Uniformhemd, drei Sterne zieren die Schulterklappen, gewährt er gnädig Audienz.
Stolz zeigt er einem die für sibirische Verhältnisse hochmoderne Telefonanlage und die automatische Fernsehüberwachungsanlage. »Die Zelle von Sascha Spesiwtsew kann man damit jedoch nicht einsehen, auch nicht die Zelle seiner Mutter.
Man kann keine einzige Zelle einsehen, nur die endlosen Gänge vor den Zellentüren.«
Plötzlich ruft er einen Beamten in sein Büro. »Sie begleiten mich zur Zelle Nr. 25.«
»Selbstverständlich«, antwortet der Mann. Romanow steht auf und bittet seinen Gast, ihm zu folgen.
Der junge, große und offensichtlich gut durchtrainierte Wachbeamte geht durch einen dieser endlos wirkenden Gänge voraus.
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