Der Kardinal im Kreml
Verteidigung war nicht länger der Schutz der eigenen Gesellschaft, sondern sinnlose Gewaltandrohung gegen eine andere. Mischa zog eine Grimasse. Kein primitiver Stamm war jemals auf eine solche Idee gekommen â dazu waren selbst die unzivilisiertesten Barbaren zu fortgeschritten â, aber ausgerechnet für sie hatten sich die fortgeschrittensten Völker der Welt mehr oder weniger freiwillig entschieden. Obwohl nicht zu bestreiten war, daà die Abschreckung funktionierte, bedeutete sie doch, daà die Sowjetunion und der Westen unter einer Bedrohung lebten, die mehr als einen Abzug hatte. Niemand hielt die Situation für zufriedenstellend, aber die Sowjets hatten, wie sie es sahen, aus einer üblen Sache das Beste gemacht, indem sie sich ein strategisches Arsenal zulegten, das die andere Seite im Krisenfall weitgehend entwaffnen konnte. Durch die Fähigkeit, den GroÃteil des amerikanischen Arsenals zu eliminieren, konnten sie diktieren, wie ein Atomkrieg geführt wurde; in klassischen Begriffen war das der erste Schritt zum Sieg, und aus sowjetischer Sicht stellte die westliche Ansicht, ein âºSiegâ¹ im Atomkrieg sei unmöglich, schon den ersten Schritt zu einer westlichen Niederlage dar. Insgesamt aber hatten Theoretiker auf beiden Seiten schon immer den ganzen Komplex Atomkrieg für unbefriedigend gehalten und im stillen an Alternativlösungen gearbeitet.
Schon in den fünfziger Jahren hatten die USA und die Sowjetunion die Möglichkeit der Abwehr ballistischer Raketen zu erforschen begonnen, unter anderem in Sari Schagan in Südwestsibirien. In den späten Sechzigern stand ein funktionsfähiges sowjetisches System kurz vorm Einsatz, doch dann hatte das Aufkommen unabhängig lenkbarer Sprengköpfe die Arbeit von fünfzehn Jahren völlig zunichte gemacht â für beide Seiten. Bei dem Kampf zwischen Angriffs- und Verteidigungssystemen schien der Angriff immer die Ãberhand zu behalten.
Das aber hatte sich geändert. Laserwaffen und andere Hochenergie-Projektions-Systeme stellten in Verbindung mit Computern einen Quantensprung in eine neue Strategie dar. Eine funktionsfähige Verteidigung stellte nun, wie Bondarenkos Bericht Filitow sagte, eine reale Möglichkeit dar. Und was bedeutete das?
Es bedeutete, daà die nukleare Gleichung zur Rückkehr zum klassischen Gleichgewicht von Offensive und Defensive bestimmt war, und daà beide Elemente nun zu Teilen einer einzigen Strategie gemacht werden konnten. Die Berufssoldaten fanden dieses System theoretisch attraktiv â wer sieht sich schon gern als gröÃter Mörder der Weltgeschichte? â , doch nun ergaben sich alle möglichen taktischen Probleme. Vorteil und Nachteil; Zug und Gegenzug. Ein amerikanisches strategisches Verteidigungssystem konnte die ganze Nuklearstrategie der Sowjetunion auf den Kopf stellen. Gelang es den Amerikanern, die SS-18 an der Ausschaltung ihrer landgestützten Raketen zu hindern, war der entwaffnende Erstschlag, auf den sich die Russen zur Begrenzung des Schadens an der Rodina verlieÃen, nicht länger möglich. Das bedeutete auch, daà die Milliarden, die man in strategische Raketen gesteckt hatte, vergeudet waren.
Das war aber noch nicht alles. Hinter dem Schild der strategischen Verteidigung konnte ein Feind erst einen entwaffnenden Erstschlag führen und dann den resultierenden Gegenschlag mit seinen Verteidigungssystemen abmildern oder gar ganz abwehren.
Diese Ansicht war natürlich vereinfachend. Kein System war jemals narrensicher â, und selbst wenn es funktioniert, sagte sich Mischa, wird die politische Führung schon einen Weg finden, es zum gröÃtmöglichen Nachteil einzusetzen. Ein strategisches Verteidigungssystem fügte der nuklearen Gleichung einen neuen Unsicherheitsfaktor hinzu. Es war unwahrscheinlich, daà ein Land in der Lage sein würde, alle anfliegenden Kernsprengköpfe zu eliminieren, und der Tod von âºnurâ¹ zwanzig Millionen Bürgern war auch für die sowjetische Führung unakzeptabel. Doch
selbst ein rudimentäres SDI-System mochte genug Sprengköpfe ausschalten, um die ganze Entwaffnungsstrategie zu entwerten.
Verfügten die Sowjets als erste über ein solches System, lieÃe sich die kärgliche Entwaffnungskapazität der Amerikaner leichter kontern als die sowjetische, und die Strategie, an der die Sowjets dreiÃig Jahre lang gearbeitet
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