Der Kartograph
Hirsche, Rehe und Schweine. Pferde und Maulesel haben die Leute dort nicht, noch auch Schafvieh, Rindvieh und Hunde.
Was aber soll ich von den Vögeln sagen, deren es eine solche Menge und eine solche Mannigfaltigkeit von Gattungen und Farben gibt, dass man es nicht beschreiben kann?
Die Gegend dünkte uns sehr angenehm. Sie steckt voller Waldungen und Büschen, die allezeit grün sind, denn die Bäume verlieren da ihre Blätter niemals. Der Früchte gibt es so viele, dass einem schier die Augen übergehen. Die Einwohner verwunderten sich sehr über unsere Weiße und unsere Bildung. Sie nannten uns in ihrer Sprache Carabi, das heißt, Leute von großem Wissen.
War das die Stelle, die du meintest, Ilacomylus?»
Waldseemüller nickte. «Und was ist, wenn wir diese Paradiese mit unserem Wissen zerstören, mit unserer stetigen Gier nach mehr? Was ist, wenn …»
«Sei ruhig, mein Freund, ich glaube, ich weiß, was du meinst. Wenn es falsch ist, was wir tun, wolltest du sagen, wenn es uns nicht bestimmt ist, das Paradies zu finden. Schon das Alte Testament beschreibt ja, warum wir daraus verjagt wurden. Das Wissen, die Erkenntnis hat uns vertrieben.»
«Vielleicht weil das Paradies nicht außerhalb von uns liegt …»
«Ja, oder weil es in unserer Natur als Menschen liegt, zu zerstören, was wir an Vollkommenem finden. Weil wir nicht glauben können …»
«… dass etwas vollkommen ist.»
«Oder es nicht ertragen.»
«Weil wir dann erst richtig begreifen, wie unvollkommen wir sind.»
«Und wie machtlos und klein», fügte Matthias Ringmann hinzu. Dann ließ er Waldseemüllers Hand ganz sanft los. Dieser schien eingeschlafen zu sein. Sein Gesicht wirkte ruhig. Er erhob sich, um den Raum ebenfalls zu verlassen.
«Philesius?» Waldseemüllers Stimme war kaum noch hörbar, kaum ein Flüstern. Er beugte sich zu ihm hinunter.
«Ja?»
«Unsere Freundschaft ist so etwas Gutes. Wir wollen sie nicht zerstören.»
«Nein, wir wollen sie nicht zerstören.»
«Ich will nicht ins Paradies. Zumindest nicht ins jenseitige, nicht jetzt.» Dieser Satz hatte Martin Waldseemüller ganz augenscheinlich seine letzten Kraftreserven gekostet. Sein Kopf sank zur Seite. Für einen kurzen Augenblick fürchtete Matthias Ringmann, der Freund könne gestorben sein. Doch dann sah er die Schlagader in seiner Halsbeuge pulsieren.
«Schlaf, Ilacomylus, mein Freund, schlaf ruhig», sagte er leise. «Wir werden dich beschützen. Deine Widersacher werden den Sieg nicht davontragen. Du wirst die Arbeit an deiner großen Karte beenden. Ich werde dafür sorgen. Und wenn es das Letzte in meinem Leben ist, das ich tue.»
12.
Erneut las er sich die Stelle durch, betrachtete seine Skizze. Dann das Ganze noch einmal. Er schloss die Augen, um das Bild besser fixieren zu können, das sich vor seinem Geist bildete.
Wir haben errechnet, dass wir ein Viertel des Weltenalls durchschifft haben, denn weil Lissabon diesseits der Mittellinie, und solches ungefähr 40 Grad nach Norden liegt, der Platz aber, allda wir uns im Augenblick befinden, fünfzig Grad jenseits der Mittellinie nach Süden zu, so macht dieses neunzig Grade aus, welches der vierte Teil des großen Zirkels ist, nach dem wahren Verhältnis dieser Zahlen, wie sie uns von den Alten überkommen ist. Nachzutragen habe ich noch, dass ich auf dem Firmamente der südlichen Halbkugel weder einen großen, noch einen kleinen Bären sah, dagegen andere merkwürdige Sternbilder, welche man in der Milchstraße erblickt.
Verärgert schaute er von dem Text hoch. Er konnte sich bei diesem Lärm nicht konzentrieren. Die Schläge, mit denen die Lettern-Stempel in die Kupferplatte getrieben wurden, machten ihn langsam nervös. Dazu kam das Fluchen, Hämmern und Nageln von Pierre Jacobi, der verzweifelt versuchte, die Druckerpresse in Ordnung zu bringen, die immer noch nicht so recht funktionieren wollte. Er hatte ganze Teile des groben Eichenholz-Rahmens ausgebessert, doch der Karren klemmte nach wie vor. Er ließ sich nicht unter die Brücke schieben, die Querstrebe, durch die die Spindel hindurchgeführt wurde, um den Tiegel möglichst gleichmäßig auf die Druckform zu pressen. Auch die Spindel hakte, der Druck war nicht groß genug. Auf diese Weise würden die Buchstaben verwischen, undeutlich werden. Wieder fluchte Jacobi. So lange er mit von der Partie war, würde die officina libraria von Saint-Dié keine schlampige Arbeit abliefern. Und wenn er noch Monate feilen, justieren, hämmern und ausbessern musste.
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