Der Kartograph
der
ptolemäischen Geographia. Außerdem brauchte er seine
Portolankarte zurück. Sonst hatten die Einbrecher alles da
gelassen. Zerrissen zwar, aber nicht gestohlen. Warum nur gerade die
Portolankarte?
Es sei denn – da war eben noch eine zweite Sache, eine
Überzeugung, die er noch niemandem gegenüber laut
auszusprechen gewagt hatte, die sich jedoch immer weiter festigte, je
mehr er erfuhr. Er war sich jedoch nicht schlüssig, ob er dieser
Überzeugung in seiner Seekarte zeichnerisch Form geben sollte. Er
befand sich noch auf schwankendem Boden, solange er die neue Welt nicht
selbst gesehen oder wenigstens mit Vespucci gesprochen hatte.
Dennoch, ein anderer Schluss war nach Prüfung aller Fakten kaum
möglich: Was der Florentiner entdeckt hatte, war ein neuer
Erdteil. Es musste außer Europa, Afrika und Asien noch einen
vierten Kontinent geben. Vespucci hatte es in seinem Bericht über
seine Reise 1501/1502 sogar selbst formuliert, sehr zurückhaltend
zwar, aber immerhin.
Damals, als er vom Meer hörte, hatte sich sein Leben für
immer verändert. Selbiges galt auch für jenen Tag, an dem er
diese Worte zum ersten Mal gelesen hatte. Mit ihnen war die Welt
für den Kartographen Martin Waldseemüller eine andere
geworden:
«Wenn man alles mit
Fleiß erwägt, wird man erkennen, dass die Ländereien,
die mich die Vorsehung auf dieser Fahrt und auf den Fahrten finden
ließ, welche ich vorher unternahm, fruchtbarer und besser
bevölkert sind als Europa, Afrika und Asia und in der Tat einen
anderen Teil der Erde ausmachen, welchem gebührt, eine neue Welt
genannt zu werden.»
Vespucci hatte es gewusst. Und Philesius hatte den
Brie f Vespuccis an den Herrn des Bankhauses der Medici, an Lorenzo di
Pierfrancesco, editiert, die Beschreibung der Fahrt, die dem
Florentiner den Durchbruch, die große Erkenntnis gebracht hatte.
Vielleicht besaß er ja das Original. Vielleicht kannte er auch
die Quatuor navigationes , jene Texte, die auf Vespuccis Logbuch beruhen sollten. Die Veröffentlichungen waren als die so genannten Lettera oder die Soderini-Briefe bekannt geworden. Piero Soderini, der Regent von Florenz, hatte sie
publizie- ren lassen. Vespuccis Logbuch in Händen zu halten
– das wäre das Höchste. Wenn er an all die Daten
über den Stand der Sterne, die Fließgeschwindigkeit, seine
geodätischen Berechnungen herankäme! Und dann gab es ja noch
die Portolankarten mit den neuesten Entdeckungen von Kolumbus, da Gama,
Real, Vespucci … Er musste noch an diesem Abend mit Philesius
da- rüber sprechen. Er war sich sicher, er konnte ihm vertrauen.
Bei Amerbach kam es jedoch nicht mehr zu dieser Unterredung. Es ergab
sich einfach keine Gelegenheit. Wie schon beim ersten Mal erbot sich
Philesius jedoch zu schon recht vorgerückter Stunde, seinen neu
gewonnenen Freund Ilacomylus in seine Bleibe zu begleiten. «Sonst
zieht ihm noch einmal jemand einen Knüppel über den
Schädel», ulkte er. Die Runde am Tisch lachte, jedermann
hatte inzwischen von dem Pech Waldseemüllers gehört.
Dieser griff den Scherz auf. «Ich danke Euch,
werter Philesius. Unser Freund aus Freiburg, der Kartäuserprior
Gregor Reisch, hat Euch schließlich erst vor kurzem aufgrund
Eurer Kämpfernatur mit Herakles verglichen. Ich nehme Euren Schutz
also dankbar an. Zumindest seht Ihr weiter als ich, weil Ihr fast alle
Menschen überragt, die ich kenne. Fast so wie der berühmte
Leuchtturm von Alexandria.»
Das wiederum bescherte ihm die Lacher der Runde.
«Aber der konnte die berühmte Bibliothek
auch nicht vor dem Untergang retten», mischte sich Marie
Grüninger ein.
«Diese junge Dame hier hat eine ziemlich spitze Zunge»,
stellte Philesius mit einem Lächeln fest. «Ich werde in
Straßburg wohl ein Wörtchen mit ihrem Onkel reden
müssen. Oder mit Eurem Verlobten», wandte er sich dann
direkt an sie.
«Mein Verlobter ist ein Mann, der eine Frau mit einer spitzen
Zunge mehr schätzt als einen stummen Fisch», konterte Marie
Grüninger. Wieder einmal bewunderte Waldseemüller die
Schlagfertigkeit dieser jungen Schönheit, die doch gerade den
Kinderschuhen entwachsen war. – Dennoch kam er nicht umhin, sich
einzugestehen, dass ihr künftiger Ehemann es nicht leicht mit ihr
haben würde. Trotzdem wünschte er sich nichts sehnlicher, als
an der Stelle dieses Unbekannten zu sein. Er wünschte es sich
jedenfalls fast so sehr wie die Verwirklichung seines
größten Traumes, die Herstellung und Veröffentlichung
seiner Karte. Jener Karte, die ihn zu einem
Weitere Kostenlose Bücher