Der Kartograph
gebrochen wird. Das neue Land
und das Wissen darum stehen allen Menschen zu. Jeder hat das Recht auf
seinen Weg ins irdische Paradies. Vielleicht liegt es ja dort, jenseits
des Atlantiks! Ich sehe sie schon aufbrechen, ihren Träumen folgen
– Handwerker, Händler, Bauern. Vielleicht können Adam
und Eva ja ins Paradies zurückkehren. Ich werde ihnen den Weg
beschreiben. Denn es sind nicht die Mächtigen, sondern die
einfachen Menschen, die diesen Garten Eden urbar machen werden, die
dort ihre Kinder zur Welt bringen und dort sterben. Vielleicht dieses
Mal in Freiheit.»
«Ihr wißt, dass das, was Ihr hier sagt, an Hochverrat grenzt?»
«Oh ja, das ist mir klar. Doch was ist der größere
Verrat? Ist es nicht der, den Menschen dieses Wissen, diese
Möglichkeiten vorzuenthalten?»
«Vielleicht solltet Ihr dennoch besser schweigen und nicht mit jedem darüber reden.»
«Meint Ihr, das weiß ich nicht? Trotzdem muss ich es
einfach tun. Schnell tun. Ich muss diese Karte fertig haben, ehe mir
jemand zuvorkommt. Denn auf Dauer lässt es sich nicht geheim
halten. Außerdem denke ich, sobald die Karte erschienen ist, bin
ich in Sicherheit. Dann kann niemand mehr den großen Aufbruch in
den Garten Eden verhindern.»
«Nun, so viel ist sicher. Wenn Ihr die Karte so zeichnet, wie ich
es Euren Skizzen entnehme, dann wird sie eine Sensation.»
«Und Ihr müsst mir helfen. Bitte. Es kann kein Zufall sein,
dass wir uns getroffen haben. Ihr sprecht nicht nur Latein und
Hebräisch, fließend Griechisch, Ihr wisst auch in der
Sternenkunde, der Geographie und der Mathematik Bescheid. Und Ihr kennt Mundus Novus .»
Unwillkürlich musste Mattias Ringmann lachen. Er hatte schon lange
nicht mehr so viel Begeisterung erlebt. Sie war ansteckend, wischte
jene Schrunden, jene Schichten aus Enttäuschung einfach beiseite,
die die Zeit über seine Hoffnungen gebreitet hatte.
«Also findet Ihr es doch lächerlich? Dabei bin ich durch Euch darauf gekommen, durch Eure De ora Antarctica, durch den Inhalt von Vespuccis Brief.» Martin Waldseemüller
wedelte mit der Schrift durch die Luft, die er in der Hand hielt.
«Ich gebe sie nie aus der Hand, viele meiner Notizen befinden
sich darin. Ich habe genau gelesen, was Vespucci schrieb, seine
Reiseroute nachvollzogen. Er ist Hunderte von Meilen die Küste
entlang gefahren, spricht selbst von einer ‹Terra firma›,
von festem Land. 400 Meilen waren es, wie er schreibt. Das
übertrifft die Ausmaße einer Insel bei weitem. Sagt selbst,
das kann doch kein Eiland mehr sein. Ich glaube nicht, dass Vespucci
sich mit seiner Einschätzung irrt oder hier bewusste Fehler
eingebaut hat. Er war schließlich Buchhalter, ein Mann mit
Respekt vor Zahlen also. Außerdem – die ganzen Tiere, die
er beschreibt, die Menschen, die Natur? Es klingt so echt. Nichts davon
äh- nelt dem, was wir bisher aus den Beschreibungen der Reisen-
den kennen. – Dann ist da noch die Karte, die Alberto Cantino,
der Lissabonner Agent des Herzogs Ercole I. d’Este, nach Genua
gesandt hat. Ich hatte eine Kopie. Doch sie wurde mir gestohlen. Ihr
erinnert Euch an den Einbruch? Außerdem habe ich Vespuccis
Erkenntnisse mit denen von Kolumbus und all der anderen Seefahrer
verglichen, soweit ich ihrer habhaft werden konnte, mit Fra Mauros
Karte, Beheims Atlas und das Ganze dann mit der Geographia von Ptolemäus. Ich bin überzeugt, Vespucci hat mit seinen
Vermutungen Recht, auch wenn er es noch nicht so deutlich zu sagen
wagt, um nicht als Aufschnei- der wie Kolumbus zu gelten. Es gibt einen
vierten Erdteil! Und wenn ich richtig liege, dann reicht er im Norden
bis etwa zu den Inseln, die Kolumbus gefunden hat, also etwa vom 50.
süd- lichen Breitengrad, über den Äquator hinweg. Es
muss so sein, anders passen die geographischen Daten nicht zusammen,
die ich bisher habe. Ach, könnte ich doch nur an Vespuccis ori-
ginale Briefe kommen. Am besten wären natürlich Vespuccis
Logbücher von seinen Reisen.
Doch ich wage nicht daran zu glauben, dass die Medici oder das
Königreich Kastilien dieses wertvolle Dokument für einen
unbekannten Kartographen wie mich zugänglich machen wer- den. Denn
das sind die Daten, die wirklich zählen, die jedem Seefahrer den
Weg weisen könnten. Nein, dazu haben sie zu viel investiert.
Trotzdem. Ich brauche unbedingt die originalen Dokumente, die
originalen Beschreibungen Vespuccis, weitere Karten und wenigstens noch
die Lettera. »
Matthias Ringmann hob die Hand. «Die Soderini-Briefe wollt Ihr
also.» – «Ihr
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