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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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entfernt war, holte ich so tief Luft, wie ich nur konnte,
und als ich ausatmete, stieß ich ein ganz fürchterliches, teuflisches Kreischen
aus. Ich verzerrte mein Gesicht zur Grimasse. Ich breitete meine langen Arme
aus wie Drachenflügel. Mein Schrei war so laut und schrill, dass sich alle auf
dem Platz die Ohren zuhielten. Der Tölpel am Tor stolperte vor Schrecken
rückwärts, denn er hielt mich für einen Teufel, der direkt aus der Hölle kam.
Er hielt sich die Hände vors Gesicht. Ich streifte ihn nur ganz leicht am Arm,
als ich vorbeiflog, aber er wich zurück, als hätte meine Berührung ihn
verbrannt.
    Auf den Straßen waren Menschen!
    Als ich die Stadt zum ersten Mal seit
Jahren bei Tageslicht sah, glich meine Reaktion der des Mannes, der nach Hause
kommt und feststellt, dass es dort vor Mäusen nur so wimmelt. Diese Straßen
hatten Amalia und mir allein gehört! Ich wünschte mir so sehr, dass diese Leute
in ihren Häusern verschwinden würden. Sie saßen in Kutschen und auf
Ochsenkarren, die mit Ballen von weißem Leinen beladen waren. Ihre Kleider
waren schön und sauber. Sie starrten das schmutzige Ungeheuer an. Kinder
zeigten mit einem rosa Finger auf mich.
    Die Soldaten hatten mich verloren oder
die Verfolgung aufgegeben, als ich am Hause Duft anlangte. Ich hämmerte mit den
Fäusten gegen die prächtige Eingangstür, bis der ältliche Pförtner sie öffnete.
Mit der einen Hand ergriff ich seine Samtlivree, mit der anderen zog ich an
seiner albernen Krawatte.
    »Ruft Amalia«, sagte ich. »Ich muss
sofort mit ihr sprechen.«
    Ich merkte, dass er sich nicht auf
meine Worte konzentrieren konnte, solange er in meinem Würgegriff war, und
deshalb ließ ich ihn los und glättete seine Livree. Verwirrt von meinem
schmutzigen Gesicht und meinem Gestank, starrte er mich an, als wäre ich ein
Wolf.
    »Fräulein Amalia Duft«, sagte ich so
ruhig und geduldig wie ein Schulmeister.
    »Fräulein Duft«, wiederholte er
unsicher. Dann leuchtete ein Licht in seinen Augen auf. »Jetzt Frau Riecher «, sagte er. Er schüttelte
den Kopf. »Aber sie ist vor zehn Tagen nach Wien aufgebrochen.«
    Ich wich zurück, und er nutzte die
Gelegenheit. Er schlug mir die Tür vor der Nase zu.
    Ich stolperte durch die Stadt. Es
gab nur noch einen Ort auf der Welt, wo ich hingehen konnte.
    Sobald ich die Tür aufgeschlossen
hatte, hörte ich einen Stuhl umfallen. Der alte Mann mit den Narben war
überrascht aufgesprungen. »Wo bist du gewesen«, rief Ulrich. Er klammerte sich
an den Tisch, als bebte die Erde unter ihm. »Wo ist sie? Was ist geschehen?«
    Ich ging quer durch den Raum und stieg
die Treppe hoch.
    »Moses!«, rief er mir nach. »Sag mir,
dass alles in Ordnung ist! Wo ist sie?«
    Dort, wo wir die Nächte miteinander
verbracht hatten, drückte ich mein tränennasses Gesicht in die Laken. Ich
weinte, bis ich in Träume von ihr verfiel.
    Als ich die Augen schließlich wieder
öffnete, war es fast dunkel, und ihr Duft war von meinem Gestank vertrieben
worden. Ich suchte den Raum nach anderen Erinnerungen an sie ab, aber da war
nichts. Ich hatte den größten Schatz der Welt gefunden und verloren: die Klänge
der Liebe.
    Im letzten rosa Abendlicht erblickte
ich das Porträt der Frau des Malers. Es lag noch dort auf dem Boden, wohin
Amalia es in ihrer Wut geschleudert hatte. Ich presste die Leinwand an meine
Brust und erinnerte mich daran, dass der Maler in seiner Trauer ihr Bild mit
seinem Blut gemalt hatte. Wenn ich nur mein Blut mit Gesang vergießen könnte!
    Ich trat ans Fenster und stieß meine
Faust hindurch. Das zerbrochene Glas fiel klirrend auf die Straße. Ich brach
eine große Scherbe heraus und setzte mich aufs Bett, das Porträt zwischen
meinen Füßen. Ich wollte mir die Adern aufschneiden und auf diesem Bett
sterben.
    Aber plötzlich stand Ulrich in der
Tür.
    »Was tust du hier!«, brüllte ich,
wütend, dass er es wagte, unser Heiligtum zu entweihen.
    »Bitte«, sagte er. »Ich habe einen
Monat lang jede Nacht gewartet. Ich muss es wissen. Ist sie … ist sie tot?«
    »Das geht dich nichts an!«, brüllte
ich. »Verschwinde oder ich stoße dich die Treppe hinunter!«
    Aber er machte einen weiteren
tastenden Schritt in das Zimmer, die Hände vor sich ausgestreckt. »Ich habe
euch zugehört«, sagte er. »Jedes Mal. Ich habe dich singen gehört. Ich habe
gehört, wie deine Stimme in ihr erklang.«
    Keine Worte waren meinen Ohren je
abstoßender vorgekommen. Ich stand auf. Ich griff nach einem Stuhl

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