Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
in die sich ein der
Unbeständigkeit der Welt überdrüssiger Mönch für eine Weile zurückziehen und zu
sich selbst finden kann. Die Tür hat eine Lücke über dem Boden, durch die
Nahrung hineingeschoben werden kann, ohne seinen Frieden zu stören. Durch ein
Loch an einem Ende des kurzen Raumes werden die Ausscheidungen des Bewohners in
den Fluss geleitet. Dieser Mönch kann singen oder beten oder seine tiefste Qual
aus sich herausschluchzen, ohne befürchten zu müssen, dass man ihn hört, denn
Steinmauern und mehrere dicke Eichentüren trennen ihn vom Dormitorium über ihm.
In unseren modernen Zeiten mit ihrer
geringen Wertschätzung für törichte Mystiker wird diese Zelle selten benutzt.
Schimmel gedeiht auf dem kalten, feuchten Boden. Ich denke, ich war der erste
Bewohner seit einem Dutzend Jahren oder mehr.
Der Abt besaß die Freundlichkeit, mich
nach mehreren Tagen zu besuchen. Sein Besuch unterbrach weder Meditation noch
frommes Gebet, denn ich nutzte die Stunden meiner Einsamkeit auf verschiedene
andere Arten. Ich hatte mich zusammengerollt und geweint. Ich hatte mich
Wutausbrüchen hingegeben und gegen die Tür geschlagen, bis ich Prellungen an
den Handflächen davontrug. Ich hatte die größten Lungen Europas eingesetzt und
geschrien, man solle mich herauslassen. Als nach vielen Stunden meine erste
Mahlzeit eintraf – leicht und fad, geeignet für mönchische Introspektion –,
warf ich sie voller Wut an die Wand und schlief dann erschöpft und unruhig in
ihren Resten. Ich hatte einen Traum, in dem Amalia mit aller Kraft die Glocken
meiner Mutter läutete.
Als der Abt schließlich kam, war ich
sehr geschwächt. Ich schäme mich, zugeben zu müssen, dass ich aus dem Becher
trank, den er mir an die Lippen hielt, und dass kein Wasser je so süß
geschmeckt hat. Er lehnte mich an die Wand, ein Soldat brachte einen Hocker,
damit der Abt neben mir Platz nehmen konnte. Er gab mir Feigen, die schmeckten,
als wären sie blutgetränkt. Ich aß sie gierig.
»Du musst diese Zeit zur Reflexion
nutzen, mein Sohn«, sagte er. »Ich bedaure, dir mitteilen zu müssen, dass du
noch einige Tage hier bleiben wirst.«
Offenbar sah er den Schrecken in
meinen Augen, denn er schenkte mir sein onkelhaftes Lächeln. »Es ist nur zu
deinem Besten. Obwohl du sowohl den Ruf dieser Abtei als auch den Ruf der
besten Familie der Stadt in Gefahr gebracht hast, darfst du nicht denken, dass
mir dein Wohlergehen gleichgültig ist.«
Er steckte mir eine weitere Feige in
den Mund, zwängte sie zwischen meine Lippen. »Und dein Wohlergehen bringt mich
heute hierher. Wärst du irgendein anderer Novize, Moses, würde ich natürlich
auch mit dir sprechen, aber unser Gespräch würde anders verlaufen. Einen
Jungen, der eines Tages zum Mann wird, würde ich bitten, seine Seele zu
erforschen und sich zu fragen, ob er auf das Gelübde vorbereitet ist, das auf
ihn zukommt. Ob er bereit ist, der weltlichen Liebe für eine höhere Liebe zu
entsagen. Er könnte mir antworten, das sei er nicht, und in diesem Fall würde
ich ihm vorschlagen, eine andere Berufung zu wählen. Aber bei dir, Moses«, fuhr
er mit sanfter Stimme fort, »ist das alles anders. Es gibt keine andere
Berufung. Du kannst nehmen, was ich dir anbiete, oder du kannst das Elend
wählen. Für dich ist die weltliche Liebe ein Trugbild. Deshalb kann ich dich
nicht vor die Wahl stellen, vor die diese Abtei die Novizen seit tausend Jahren
stellt. Die Entscheidung ist bereits für dich getroffen worden.«
Er bot mir eine weitere Feige an, aber
ich presste die Lippen zusammen. Ich war entschlossen, keine Wohltat mehr von
diesem schrecklichen Mann anzunehmen, der mich von meiner Liebsten fernhielt.
Trotzdem hielt er mir die Feige an die Lippen und wartete geduldig darauf, dass
ich sie öffnete.
»Ich habe lange mit Karoline Duft
gesprochen. Sehr lange. Vielleicht erleichtert es dich zu erfahren, dass ich
ihr nichts von deinem« – hier legte er eine respektvolle Pause ein, und ich
zuckte zusammen – »von deinem Zustand erzählt habe. Sie macht sich große Sorgen
um die Ehre ihrer angesehenen Familie und wünscht genau wie ich, dass die
Angelegenheit mit der größten Diskretion behandelt wird. Noch größere Sorgen
macht sie sich um die bevorstehende Hochzeit ihrer Nichte, des Mädchens, das du
offenbar getäuscht hast. Sie sagt, dieses Mädchen habe sich den Wünschen seines
Vaters auf merkwürdige Weise widersetzt, was natürlich bei der Tante Verdacht
erregt hat. Sie war davon
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