Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Nur der Tod hätte eine
Erklärung sein können, aber nicht einmal der Tod konnte Orpheus aufhalten!
Moses! Deine Eurydike lebt!«
Als seine Hand meine Wange erreichte,
wich ich nicht vor seiner Berührung zurück. Er sog die Luft ein, als ob meine
Haut eine Million Erinnerungen an meine Stimme in ihm wachriefe.
»Aber ich bin nicht Orpheus«, sagte
ich schwach.
Seine Hände befühlten meinen Kiefer.
Er ließ sie über meinen langen, edlen Hals gleiten. Eine Hand hielt kurz inne,
um den Ort zu berühren, wo der Schatz meiner Stimme in meiner Kehle verborgen
war. Dann ertastete er die Konturen meiner gewölbten Brust, unter der Lungen
atmeten, die zwölfmal so groß waren wie die, die er vor Jahren berührt hatte.
»Doch«, sagte er. »Doch, der bist du.«
Ein letztes Mal legte er die Hand auf
meinen Hals, eine Berührung so leicht wie Seide. »Geh!«, flüsterte er. »Geh!«
DRITTER AKT
I.
Ich nahm mir nicht einmal
die Zeit, mir den Gefängnisdreck aus dem Gesicht zu waschen. Den blinden Mann
ließ ich in dem Raum unterm Dach zurück. Er fiel auf die Knie und rief, ich
solle ein letztes Mal für ihn singen. Ich tat es nicht.
In der Abenddämmerung verließ ich die
Stadt, und dann fragte ich den ersten Bauern, dem ich begegnete, nach dem Weg
nach Österreich. Er musterte mich, denn vermutlich hatte er noch nie einen so
großen Mann mit einem so jungenhaften Gesicht gesehen, und ich verspürte einen
Anflug der alten Scham. Aber dann rieb er sich das Kinn, und wir drehten uns
beide zweimal um. Endlich wies er auf den fernen Rhein. »Die Richtung«, sagte
er. Dann zuckte er die Achseln und wandte sich wieder seinem Pflug zu.
Und so wanderte ich, bis ich in der
Morgendämmerung den großen Fluss erreichte. Ich hatte seine Wassermassen noch
nie an die sanften Ufer plätschern hören, obwohl ich zwölf Jahre lang nur fünf
Meilen entfernt gelebt hatte. Ich folgte seinem Lauf, denn ich nahm es als
gegeben an, dass dieses magische Wien dort sein musste, wo das Kristallwasser
des Flusses seine Quelle hatte. Auf diese Weise ging es mehrere Tage, wobei ich
den Horizont stets nach einer prächtigen Stadt absuchte.
Bei meiner völligen Unkenntnis der
Geographie bemerkte ich nicht, dass der Rhein eine Biegung machte und mich nach
Südwesten führte, deshalb stieg ich mehrere Tage in die Berge hinauf, das
Gesicht voll glühender Hoffnung, das Ziel meiner Wünsche im Rücken. Des Nachts
stahl ich in den schönsten Häusern an meinem Weg Nahrung – und nahm auch gleich
ihre Geräusche mit. Dann teilte ich meine Beute mit allen armen, freundlichen
Bauern, die ich traf.
Einer der ärmsten und freundlichsten
von ihnen, ein uralter Mann, der vor langer Zeit Soldat gewesen war, sagte mir
schließlich: »Junge, du bist ein Dummkopf.« Er schüttelte den Kopf. »Auch wenn
du ein Leben lang nach Westen läufst, kommst du nie nach Wien. Osten, Junge. Du
musst nach Osten!« Er packte mich an den Schultern und drehte mich herum wie
eine Puppe.
»Geh jeden Tag auf die Morgensonne
zu«, flüsterte er mir von hinten ins Ohr. »Zu Mittag ruh dich aus, und am
Nachmittag folge deinem Schatten.« Er schob mich weg, und ich stolperte
dieselbe Straße wieder hinunter, die ich heraufgekommen war. Und so plünderte
ich dieselben schönen Häuser noch einmal, worüber dieselben freundlichen Bauern
jubelten. Ich befolgte die Regel des weisen alten Mannes und fragte jedes
freundliche Gesicht, wie ich die Heilige Römische Kaiserin finden würde.
Zum Glück war ich ein Dummkopf! Denn
sonst hätte ich nicht die Kraft gehabt, eine solche Reise auch nur zu beginnen.
An jeder Wegbiegung zauberte meine Erinnerung Amalias Klänge herbei, und
deshalb gab ich selbst dann nicht auf, als meine nackten Füße zu bluten
begannen, als es so kalt wurde, dass meine Finger wehtaten, als mich eine
Kolonne österreichischer Soldaten in den Schlamm stieß.
Schneefälle machten den Arlbergpass ungangbar
und hielten mich den Winter über in Bludenz zurück. Ich kehrte Staub zusammen
und bohnerte Böden für eine blinde Witwe, die mich gehört hatte, als ich
heimlich in ihrem Keller schlief. Etwas in meiner Stimme erregte ihr Mitleid.
Sie kaufte mir Schuhe und Kleider, die mich halbwegs wie einen Mann aussehen
ließen. Ich überquerte den Pass, sobald der Schnee schmolz, und fuhr auf einem
Händlerkarren ins Tal nach Innsbruck. Im Frühsommer schien mir die Zeit
vorauszueilen, als ich aus den Bergen in die Ebenen hinabstieg, sodass
Jahrhunderte vergingen, als ich
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