Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
Vom Netzwerk:
und
schleuderte ihn quer durch den Raum. Er hörte den Luftzug und hob seinen Arm in
die Höhe. Der Stuhl streifte seinen Arm und drängte ihn zurück, aber er fiel
nicht.
    »Wenn du es mir sagst, gehe ich«,
beharrte er. »Ist sie tot?«
    »So gut wie tot«, schrie ich. »Sie hat
geheiratet und ist nach Wien gegangen. Geh jetzt.«
    Aber er rührte sich nicht vom Fleck.
Er streckte eine Hand aus, als wolle er sich irgendwo anlehnen, fand aber
nichts.
    »Nicht tot?«, sagte er wie zu sich
selbst.
    »Verschwinde!«, brüllte ich noch
einmal.
    »Wenn das so ist«, sagte er, als ich
die Hände auf einen weiteren Stuhl legte, »warum bist du dann hier?«
    Ich schleuderte den Stuhl über den
Tisch. Dieses Mal prallte er an seinem Kopf ab. Er stolperte nach hinten und
fiel, ohne auch nur zu stöhnen. An der Tür blieb er sitzen. Seine leeren Augen
starrten mich an.
    »Moses. Warum bist du ihr nicht
gefolgt?«, murmelte er.
    Dass er eine so dumme Frage stellte,
steigerte meine Wut noch.
    »Sie hat dich ihren Orpheus genannt.«
    Das weckte meine Schuldgefühle und
rief mir ins Gedächtnis, wie ich sie getäuscht hatte. »Und das«, sagte ich,
während ich noch einen Stuhl in die Höhe hob, »ist genau das, was ich niemals
sein kann.«
    Dann fiel mir ein, dass dieser Mann,
der jetzt auf dem Boden kauerte, der Schöpfer meiner Tragödie war – und doch,
den erbärmlichen, gebrochenen Ulrich zu töten, wäre eine allzu geringe
Entschädigung gewesen für all das, was ich verloren hatte. Ich ließ den Stuhl
fallen, und er zuckte bei dem Geräusch nicht einmal zusammen.
    »Lass mich in Ruhe«, sagte ich. Ich
wandte ihm den Rücken zu und verbarg mein Gesicht in den Händen.
    Eine so tiefe Stille trat ein, dass
ich schon befürchtete, ich hätte ihn doch getötet. Aber als ich mich umdrehte,
saß er immer noch da und schüttelte leicht den Kopf. »Ich habe dir Unrecht
getan«, sagte er.
    »Das hast du«, antwortete ich.
    »Nein«, sagte er. »Nicht das. Das war
natürlich auch Unrecht, aber es ist sehr lange her, und ich habe Gott jeden Tag
um Vergebung dafür gebeten. Ich spreche von einem anderen Unrecht, von einem,
das bis heute andauert.«
    Er kam mühsam auf die Füße. Blut rann
von seiner Schläfe bis zum Kinn. Er streckte eine Hand aus, um Halt zu finden.
    »Moses, als ich dich schließlich
wiederfand, war meine größte Angst, dass du diese Stadt verlassen könntest und
ich deine Stimme nie wieder hören würde. Ich wusste, ich würde dich nicht noch
einmal finden. Und deshalb habe ich geschwiegen. Du hast mir erzählt, dass der
Abt dich hierbehält, um deine Schande zu verbergen. Er hat Angst, dass du
anderen erzählst, was in dieser Abtei geschehen ist, und aus diesem Grund hat
er dich angelogen. Und auch ich habe dich belogen, indem ich schwieg.«
    Ich betrachtete ihn verwirrt. Er streckte
die Hände aus und schlurfte zum Tisch.
    »Ja, die Welt macht es Menschen wie
dir wirklich nicht leicht. Wenn der Abt gesagt hat, dass du nicht heiraten
darfst, dass du nicht Priester werden kannst, hat er nicht gelogen. Einfache
Männer lachen dich aus, wenn sie hören, dass du kein Mann bist – auch das ist
wahr. Du kannst nicht unter ihnen leben, ohne verspottet zu werden.«
    Er hatte nun eine Hand auf den Tisch
gelegt. Ich spürte ein warmes Kribbeln an meinem Hals.
    Ulrich ging langsam vorwärts, während
er sprach: »Aber es gibt Dinge, die er nicht gesagt hat. Die du von mir gehört
hättest, wenn ich nicht solche Angst gehabt hätte, dich nie wieder singen zu
hören. Moses, jenseits dieser Dörfer, wo du niemals Freunde finden wirst, gibt
es Städte, die nicht einmal der Abt versteht.«
    Ich sah, dass seine Hände zitterten,
als sie sich am Tischrand entlangschoben. »Auch in diesen Städten können die
Menschen grausam sein – aber dort wirst du singen. Du wirst sie mit deiner
Stimme bezaubern. Sie werden dir Gold geben und dich reich machen. Moses, du
musst wissen, dass Wien ein solcher Ort ist.«
    Er erreichte das Tischende und ließ
los. Mit einer Hand suchte er nach meinem Gesicht. »Sie hat dich Orpheus
genannt!«, sagte er noch einmal, als wäre das Grund genug, Welten zu
durchqueren. Er machte einen weiteren tastenden Schritt auf mich zu; die
rissige weiße Hand strebte nach meinem Gesicht. »Ich habe alles gehört, jede
Note in jeder Nacht. Hasse mich dafür! Töte mich! Das ist mir inzwischen
gleichgültig. Aber du, Moses, du hast es auch gehört! Als du heute allein
hierhergekommen bist, glaubte ich, sie sei tot.

Weitere Kostenlose Bücher