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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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sicher für dich ist – und für sie.«
    Im Dunkeln versuchte ich um Hilfe
zu rufen, aber ich konnte nur stöhnen. Nach mehreren Stunden schob mir jemand
mein Essen unter der Tür hindurch. Mit größter Anstrengung kroch ich über den
Boden und stopfte es mir in den Mund. Ich musste wieder stark werden. In der
pechschwarzen Zelle verlor ich jedes Gefühl für die Zeit; sie verlangsamte sich
und eilte gleichzeitig davon. Nach Stunden oder Tagen hörte ich die stampfenden
Füße und das Geplapper von tausend Menschen, und ich wusste, dass es die
Hochzeitsgäste waren. Ich mühte mich auf die Füße. Ich schrie, es gebe ein
Feuer, eine Flut, ich sei krank, ich wünsche, meine Sünden zu beichten, aber
niemand kam, nur das Essen wurde gebracht. Ich schrie nach Amalia. Ich hatte
ihr gesagt, sie müsse heiraten, jetzt aber überkam mich Schwäche. Nein!, hätte ich gesagt, wenn
sie mich hätte hören können. Meine Ohren sagen mir,
dass wir einen bösen Fehler gemacht haben! Wir lieben uns, du und ich! Halt!
Ich bin nicht tot!
    Minuten und Stunden verloren ihre
Bedeutung für mich. Meine Ohren rebellierten gegen meine anderen Sinne. Du Narr!, sagten sie. Du Narr! Die Geräusche der
Feierlichkeiten drangen in meine Zelle. Ich bedeckte mir die Ohren und schrie,
aber das machte alle Geräusche nur noch lauter, denn sie kamen nicht aus der
Kirche über mir, sondern tief aus meinem Kopf. Sie waren da, wenn ich in wachem
Zustand in der Zelle hin und her lief; sie waren da, wenn ich mich auf dem
Boden herumwarf, von Albträumen gepeinigt. Karl Victor auf der Kanzel. Bugatti,
der für das Brautpaar sang. Nicolai und Remus in der lächelnden Menge. Die
Glocken meiner Kindheit, die durch die Welt läuteten. Amalia in den Armen ihres
Mannes. Alle hatten mich vergessen.
    Schließlich wurde die Tür
geöffnet. »Du kannst in deine eigene Zelle zurückkehren«, sagte der Abt. Bei
meinem Anblick zog er vor Ekel leicht die Oberlippe in die Höhe. Zwei Soldaten
standen hinter ihm, aber ich war bereit, es mit allen dreien aufzunehmen.
Zuerst jedoch brauchte ich eine Antwort.
    »Hat die Hochzeit stattgefunden?«, fragte
ich. Meine Stimme war heiser und brüchig. »Ist es zu spät?«
    Der Abt schüttelte traurig den Kopf.
»Mein lieber Junge«, sagte er, »das war vor drei Wochen.«

XVI.
    Die Soldaten zogen mich in
die Höhe und schleppten mich hinter dem Abt aus dem Keller. Als wir das
Erdgeschoss des Dormitoriums erreichten, blieb der Abt stehen und drehte sich
um. Die Soldaten ließen mich auf den Holzboden fallen. Ich kniete und sah zum
Abt hinauf.
    »Du musst baden«, sagte er. »Wechsle
die Kleider. Wenn du deine Sünden beichten möchtest, kannst du zu mir kommen.«
    Das väterliche Lächeln war
verschwunden, da war nur Ekel vor dem, was er im Licht sah: meine schmutzigen
Kleider, meine fahle Haut und meine anderen Makel.
    Ich stürzte mich auf ihn. Das hatte er
nicht erwartet, und deshalb ließ ihn mein Ansturm nach hinten umfallen. Nur
wenige Geräusche in meinem Leben habe ich so genossen wie den hübschen Knall,
mit dem sein Schädel auf dem Eichenboden aufschlug. Er schrie. Er fluchte. Aus
Angst, ich würde ihm die Augen aus den Höhlen reißen, hob er die Hände vors
Gesicht. Aber das musste bis zu einem anderen Tag warten. Die Soldaten
versuchten, nach mir zu greifen, als ich losstürmte. Aber meine Beine waren
lang, mein Körper leicht, während sie bewaffnet und voller Muskeln waren. Mehr
noch: Die Liebe gab mir Rückenwind. Die Soldaten hatten keine Chance, mich zu
ergreifen, als ich in den Kreuzgang rannte. Ich hatte das Tor passiert und war
auf dem Abteiplatz, bevor sie Alarm schlagen konnten.
    Es war ein Vormittag im Frühherbst.
Die etwa hundert Personen, die zum Palast des Abtes gingen, die Sonne genossen
oder die vollkommene Kirche betrachteten, drehten sich alle um, um zuzusehen,
wie der schmutzige Novize über den Platz raste – seine schlaksigen Beine
berührten kaum den Boden und glichen denen eines hüpfenden Vogels. Jetzt
verfolgten mich drei Soldaten, aber ich ließ sie weit hinter mir.
    Sie schrien auf einen vierten Soldaten
ein, der das Tor zur Stadt bewachte.
    »Schlag ihn nieder«, rief einer.
    »Er hat versucht, den Abt
umzubringen«, rief ein anderer.
    Der Soldat am Tor war jung,
stumpfäugig und wie ein Bär gebaut; seine Schultern waren doppelt so breit wie
meine, obwohl er nicht so groß war wie ich. Er lächelte und zeigte seine
Pranken.
    Als ich noch zehn Schritte von diesem
kräftigen Jüngling

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