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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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die unebenen Fußwege verließ und stattdessen
den Treidelpfaden an den Kanälen folgte. Dann fand ich den vermutlich
breitesten Fluss, den Gott je geschaffen hatte.
    Ich fragte einen vorbeigehenden Mann,
wie dieser Fluss wohl hieße und ob er mich an mein Ziel führen würde.
    »Das ist die Donau«, sagte er. »Und
wenn du ein Fisch bist, kannst du Wien noch vor dem Herbst erreichen.« Ich
setzte mich ans Ufer, betrachtete die sanfte Strömung und kaute auf den letzten
Resten eines gestohlenen Pökelschinkens herum. Meine Füße taten weh. Ich
beschloss, nicht mehr zu wandern, sondern eine Möglichkeit zu finden, mich von
diesem mächtigen Fluss tragen zu lassen, denn meine Liebe war so machtvoll wie
seine Wasser.
    Ich winkte jedem vorbeikommenden
Schiff zu, sei es klein oder groß. Ich schrie: »Fahrt Ihr flussabwärts?«, als
wäre die Richtung, in die der Bug zeigte, nicht Beweis genug. Einige
schüttelten den Kopf, andere gaben vor, mich nicht zu hören. Keiner hielt an und
nahm mich mit. Dann sah ich auf mein Spiegelbild im Wasser, und der Anblick
überraschte mich. Ich hatte seit dem Winter, den ich im Haus der Witwe
verbracht hatte, nicht gebadet, und das war etwa vier Monate her. Mit dem
trüben Wasser versuchte ich den dicksten Dreck abzuwaschen, aber das führte nur
dazu, dass die Schmutzschicht auf meinem Gesicht Streifen bekam und ich wie ein
Wilder mit Kriegsbemalung aussah.
    Schließlich trieb in der Dämmerung ein
schmales, schwer mit Kornsäcken beladenes Boot flussabwärts. Es war ein
jämmerlicher Anblick. Sein Rumpf hatte ebenso viele geflickte Stellen wie die
Kleidung seines Kapitäns, der am Heck stand und träge seine Stake in das
seichte Wasser schob. Ein schlaksiger Junge, nur Knochen und Pickel, saß stumm
am Bug. Bis in meine müden Zehen fühlte ich, dass dies mein Schiff war. Ich
sprang auf und lief am Ufer neben ihm her.
    Ich sang ein einfaches Lied.
    Der Kapitän stieß seine Stake in den
Uferschlamm, als drehe er einen Dolch in einer Wunde. Auf diese Weise
verankert, schwang das Boot herum. Dem Mann stand der Mund offen, genauso wie
seinem Sohn. Sie bewegten sich nicht, sondern hörten gebannt zu.
    Ich hörte auf zu singen, aber sie
schlossen ihre Münder nicht, und deshalb fing ich ein neues Lied an. Während
sie in dumpfer Verwunderung zuhörten, trat ich in den trüben Fluss, watete zu
ihrem Boot und kletterte an Bord.
    Sobald ich den schwankenden Boden
betreten hatte, wusste ich, dass Boote nichts für mich waren – am Anfang spürte
ich nur ein ungutes Schaukeln im Bauch, als hätte ich ein perlendes Getränk zu
mir genommen. Ich hörte auf zu singen und presste die Lippen aufeinander, weil
ich Angst hatte, zusammen mit dem Gesang mein Essen von mir zu geben. Als der
Bootsführer sein träges Rühren in der Suppe wieder aufnahm, war ich bereits wie
gelähmt vor Übelkeit und ließ mich auf die Säcke fallen. Ich war drauf und dran,
ihnen zuzurufen, sie sollten mich am Ufer absetzen, ließ es aber sein, denn
gerade da begannen wir, langsam stromabwärts zu treiben, und durch den Nebel
meiner Übelkeit rief mein Herz voller Freude aus: Amalia,
ich komme!

II.
    Benommen vor Übelkeit
schlief ich mehrere Tage lang zwischen den Säcken mit Buchweizen, bis ich eines
Morgens von meiner Mutter geweckt wurde. So schien es wenigstens. Steh auf!, hörte ich sie in
meinem Dämmerzustand rufen. Steh auf! Es ist Zeit! Es
ist Zeit! Ihr Ruf war ein massives,
dröhnendes Läuten. Sobald ich es hörte, wusste ich, dass es mir galt – sie rief
mich ein zweites Mal.
    Ich sprang auf wie ein General, der
vom Hornsignal geweckt wird, und kämpfte mich aus der Umarmung des Buchweizens.
Die Übelkeit traf mich wie ein Tritt, und ich brach wieder zusammen.
    Wieder erzitterte der Himmel, und für
meine Mutter kam ich stolpernd auf die Füße und fiel beinahe in das
übelriechende Wasser, aber der Sohn des Bootsführers fing mich mit zwei
knochigen Armen auf. Er reichte mir einen Eimer, den ich nahm, weil ich ihn für
ein Gerät hielt, mit dessen Hilfe ich an das ferne Ufer gelangen würde, aber
dann sah ich das Mitleid in seinem Gesicht. »Nur zu«, sagte er und half mir,
den ranzig riechenden Eimer an den Mund zu halten, »spuck es aus. Danach geht
es dir besser.«
    »Nein!«, rief ich und zeigte in den
Himmel. »Hör zu!«
    Der Junge sah seinen Vater an, dieser
zuckte die Achseln.
    »Bitte«, sagte ich. »Bringt mich ans
Ufer!«
    Der Fluss war hier voller Barken und
kleinerer Boote, und er war auch viel

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