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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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aufmuntern.«
    »Dann hat er mich also nicht
vergessen?«
    »Dich vergessen?« Remus lachte, und
sein Lachen war so schneidend und traurig – ich konnte mich nicht daran
erinnern, diesen Mann jemals lachen gehört zu haben –, dass es mich verstörte.
Er legte die Hand auf meinen Arm und schob mich auf die Gasse. »Nein, er hat
dich nicht vergessen. Komm, ich habe darauf gewartet, dass mein Schüler die Tür
öffnet, aber er war mit Sicherheit unterwegs und hat getrunken und wird nicht
rechtzeitig für seinen Lateinunterricht aufwachen. Das erzählt er seinem Vater
bestimmt nicht, und ich bekomme mein Geld trotzdem. Keiner verliert etwas, nur
der heilige Augustinus.«
    Die letzten fünf Jahre hatten Remus
verändert. Er schritt schnell aus und zögerte nicht, als er mich durch die
verwinkelten Gassen nach links und nach rechts führte. »Das gehört Fürst
Lainberg«, sagte er und zeigte auf ein Palais mit staubigen Fenstern. »Und
diese Scheußlichkeit« – er schüttelte den Kopf über ein neues Palais, an dessen
Ecken sich Marmorpferde aufbäumten – »gehört Graf Kursky. Das dort dem Fürsten
Barhainy und jenes dem Grafen von Palm.«
    »Wie kann es so viele Prinzen und
Grafen in nur einer Stadt geben?«, fragte ich ihn.
    Er lachte. »Nein, Moses. Nicht in
einer Stadt. In einem Kaiserreich . Aber selbst dafür sind es zu viele. Einige
beherrschen Land in weiter Ferne; einige statten sogar gelegentlich Besuche
dort ab. Andere würden ihre Ländereien nicht einmal auf einer Landkarte finden.
Wieder andere haben überhaupt kein Land, nur den Titel. Die Leute tun alles, um
Graf zu werden. Und jetzt, da die Kaiserin Geld für ihren Krieg braucht, quillt
die Stadt von ihnen über.«
    Remus führte mich durch das Burgtor
hinaus und über das grüne Glacis; seit meiner Ankunft war es das erste Mal,
dass ich die Innere Stadt verließ. Wir ließen die Steingebäude der Inneren
Stadt hinter uns und gelangten zu den Fachwerkhäusern der Vorstädte. Hier waren
die Straßen enger, die menschlichen Laute weniger vornehm: Kinder rannten ohne
Schuhe umher, während ihre Mütter sie aus offenen Fenstern ausschimpften;
Männer spuckten lieber auf den Boden, als einen Spucknapf zu beschmutzen; Kühe
wurden nicht im Hof gehalten, sondern durften frei herumlaufen und in den
Bergen von Abfall auf der Straße nach Futter suchen.
    Remus führte mich in einen
berüchtigten Stadtteil, in dem überall der Lockruf der Liebe erklang:
heruntergekommene Wirtshäuser säumten die Hauptstraße des Viertels, und dort
boten die Damen in Türen und Fenstern ihre Dienste an. Remus bemerkte, wie ich
die winkenden Frauen schamhaft anstarrte. »Willkommen in Spittelberg«, sagte
er. »Hier haben wir in den letzten drei Jahren gelebt. Eigentlich der beste Ort
für uns, denn es gibt auf der Welt keinen anderen, der weiter von Staudachs
Abtei entfernt ist.« Er wies mit einer Handbewegung auf die Straße, um zu
verdeutlichen, was er meinte. Frauen kippten uns Eimer mit schmutzigem
Waschwasser vor die Füße. Männer schoben Handkarren, die mit sauer riechendem
Kohl beladen waren. Aber vor allem waren die Straßen voller Kinder. Sie
ergossen sich aus den Häusern, krakeelten in offenen Fenstern, stocherten mit
Stöcken im fauligen Abfall herum. In der Hitze des Spätsommers trugen nur
wenige von ihnen Hemden, keines der Kinder hatte Schuhe an den Füßen. Ein
kleines Mädchen saß auf einem anderen und kitzelte es; sicher waren es
Schwestern, denn sie hatte beide leuchtend rote Haare. Vier Jungen standen auf
den Überresten einer eingestürzten Schenke und riefen einander etwas zu. Sie
spielten ein Spiel, das ich nicht verstand. »Du bist’s!«, rief einer. »Drei
Steine! Drei!«
    Remus berührte meinen Ellenbogen und
holte mich aus meiner Betrachtung. »Es war nicht immer so. Vor hundert Jahren
machten Händler aus dem Süden und Osten hier Rast, wenn sie in die Kaiserstadt
kamen. Diese schlammige Straße war mit Kopfsteinen gepflastert. Diese grauen
Wirtshäuser waren bunt angemalt. In jedem Hof drängten sich die Wagen. Aber
1683 belagerte die türkische Armee hier die Stadt acht Monate lang. Sie nahmen
sich alles von Wert und zerstörten den Rest.« Remus zeigte auf ein verlassenes
Wirtshaus. Nur die trostlose Fassade war geblieben. Auf der anderen Seite der
leeren Fenster zerschlugen mehrere schmutzige Jungen die Trümmer zu Staub.
»Halte dich nachts von den engen Gassen fern«, fuhr Remus fort. »Und wenn du
irgendwelche Münzen hast, pass gut

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