Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
schickt uns nach Wien! Wir sind frei!
Endlich frei!‹ Moses, heute klingen diese Worte wie ein Fluch für mich, wie ein
Urteil, das über uns gefällt wurde.«
Remus schwieg. Er sah mich an. Zum
ersten Mal in meinem Leben sah ich so tief in seine Augen. Die Tränen passten
so gar nicht zu seinem grimmigen Gesicht. »Durch ihn habe ich meinen Glauben an
Gott verloren, Moses«, flüsterte er und beugte sich näher zu mir. »Dieselbe
Frömmigkeit, für die ich ihn vom ersten Tag an angebetet habe – als ich
fünfzehn war und mein Vater Geld zahlte, damit sein Kümmerling von einem Sohn
für immer in eine Abtei eingesperrt würde –, dieselbe Frömmigkeit rief in
dieser Stadt den Teufel herbei. Er hat einen Mann umgebracht. Sprich ihn nicht
darauf an. Er hat es vergessen. Ein Mann hatte eine Hure eine Hure genannt und
ihr dann ins Gesicht gespuckt. Nicolai warf diesen Mann auf die Straße. Ein
Fußtritt genügte, um ihm das Genick zu brechen. Alle jubelten und kauften ihm
etwas zu trinken, während ich die Leiche zum Fluss schleppte.
Sie liebten ihn. Er trank den
Champagner der Herzöge und den Schnaps der Bauern. Wir brauchten kein Geld. Er
hatte sein Lächeln und sein Lachen. ›Sankt Benedikt und sein Wolf!‹, schallte
es aus den Fenstern der Paläste, und gleichgültig, wie spät es war, wir blieben
auf ein Glas. Auf ein Lied. Oft blieb er die ganze Nacht. Männer, Frauen.
Prinzen, Dirnen. Seine Liebe reichte für alle.
Aber als der Hautausschlag erschien,
war er plötzlich für sie gestorben. Einer seiner Liebhaber schickte ihn zu
einem Arzt, der ihn so mit Quecksilber abfüllte, dass er einen Monat lang nicht
essen konnte. Alle anderen hatten ihn vergessen, auch wenn er immer noch an
ihre Türen hämmerte. Schließlich blieb er hier und ging nicht mehr aus. Er
konnte stundenlang auf seine Haut starren und beobachten, wie ein neuer
Ausschlag entstand. Er sah zu, wie seine Schönheit schwand, und betrachtete
sich jeden Tag stundenlang im Spiegel.
Nach ungefähr einem Jahr war der
Hautausschlag eines Tages verschwunden. Und obwohl er hässlich war, ging er auf
die Straße oder auf Gesellschaften, zu denen er nicht eingeladen war, und
brüllte: ›Ich bin geheilt!‹ Aber er war nicht geheilt. Seine Augen trübten sich
und konnten selbst das schwächste Licht nicht mehr vertragen. Dann kamen die
Knoten und Geschwüre – auf seinen Armen, in seinem Rachen – und mit ihnen die
Schmerzen. Ich wachte auf und hörte sein Stöhnen. Seine Nase wurde weich. Die
Knochen schienen sich aufzulösen. Fassungslos musste er den Verfall
mitansehen.«
Remus drehte sich um, und wir sahen
beide auf unseren schlafenden Freund. Der große Sessel sah aus, als sei er für
ein Kind gedacht – die Arme des Riesen hingen darüber, seine Knie waren
gespreizt. Das Kissen war verrutscht, sein Kopf war nach vorne gefallen.
»Und du warst ganz allein«, sagte ich.
Remus nickte. »Aber hatte ich mir das
nicht gewünscht? Er und ich allein? Unsere einsame Höhle? Vielleicht haben wir
bekommen, was wir verdient haben.«
VIII.
Wenn das Wetter schön war
und Guadagni keine anderen Zerstreuungen hatte, befahl er mich in seine
Kutsche, und sein Kutscher brachte uns in den Prater oder in einen anderen
königlichen Park, zu dem ihm Zutritt gewährt wurde, und wir fuhren stundenlang
auf den Wegen, die der Kaiser für die Jagd hatte anlegen lassen. Ich hasste
diese Tage, bedeuteten sie doch, dass ich nicht in der Umgebung des Palais
Riecher auf der Lauer liegen konnte. Während wir dahinfuhren, befürchtete ich
immer, dass meine Liebste ausgerechnet an diesem Tag ein paar Schritte auf die
Straße tun würde.
Aber an einem dieser Nachmittage, als
tief in den Wäldern des Praters das Zwitschern der Vögel in den Bäumen und das
Knirschen der Räder auf dem Kies meine einzige Unterhaltung waren, entschloss
ich mich, meinem Maestro zu beweisen, dass auch ich ein Gehirn hatte. Auch ich
hatte ein glühendes Herz. Ich wollte das Thema anschneiden, das für uns beide
eine so außergewöhnliche Bedeutung hatte. Ich fragte Guadagni: »Signor, wer hat
Euch kastriert?«
Ich hielt den Atem an und wartete auf
seine Reaktion. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
»Mio fratello«, sagte er, »das ist die eine Frage, die du einem Musico niemals stellen
darfst.«
Ich entschuldigte mich und hielt den
Mund.
Aber dann lächelte er. »Verzeihung«,
sagte er. »Woher sollst du solche Regeln kennen? Du bist der einzige Mensch,
der eine Antwort
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