Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
auf deine Taschen auf.«
Wir gelangten zu mehreren Gassen, die
auf einen Hügel führten, und an einer Ecke blieben wir vor einem Haus mit nur
zwei Stockwerken stehen. Es war in besserem Zustand als viele andere Häuser im
Viertel, obwohl es sich ein wenig zur Seite neigte. Im Parterre befand sich
eine Art Lokal. Nur ein Wort stand über der Tür: Kaffee .
»Hier herein«, sagte Remus. Der
einzige Raum war angefüllt mit Männern, die auf Bänken saßen und alle dieselbe
dampfende Flüssigkeit tranken, die einen durchdringenden, erdigen Geruch hatte.
Es schien sich um ein magisches Gebräu zu handeln, denn eine hellwache
Lebhaftigkeit hatte sie erfasst. Sie klopften auf die Tische und redeten
ununterbrochen aufeinander ein. Ein Mann mit rabenschwarzen Haaren übernahm
weiter hinten die Rolle des Hexenmeisters: Er mahlte Bohnen – so schwarz wie
der Tod – zu einem feinen Pulver und mischte dieses dann mit dampfendem Wasser
aus einem Samowar.
Ich folgte Remus zu einer Treppe am
Ende des Raumes. Mein Freund blieb stehen und legte mir eine Hand auf die
Schulter. »Erschrick nicht«, sagte er, und ich erschrak. »Es gibt gute und
schlechte Tage.«
Wir stiegen die enge, gewundene Treppe
hinauf. Remus öffnete eine Tür und ließ mich in die drei Räume eintreten: ein
Wohnzimmer und ein eigenes Schlafzimmer für jeden – alles zusammen kleiner als
Nicolais Zelle in der Abtei. Im Wohnzimmer bestand die Decke aus den Balken des
hohen Schrägdachs. An einer Wand gab es einen leeren Kamin. Dicke Vorhänge
hingen vor den drei kleinen Fenstern, sodass nur trübes, abgeschirmtes Licht in
den Raum fiel. Bücherstapel lagen auf den Tischen und auf dem Boden vor den Wänden.
Die stickige Luft roch nach trocknendem Heu.
Jemand saß mit dem Rücken zu uns in
einem Sessel, aber der Mann war so groß, dass ich meinen Freund selbst in der
Dunkelheit erkannte.
»Nicolai!«, rief ich, und alle
Besorgnis war aus meiner Stimme gewichen. Ich ging um den Sessel herum, um sein
Gesicht zu sehen.
Seither habe ich denselben
grässlichen Anblick in den dunklen Ecken zahlloser Städte gesehen: die
Schwellungen; die Spuren von Geschwüren, die zu Narben geworden sind; die
weiche, entstellte Nase, die aussieht, als hätten Maden den Knorpel verspeist.
Er war immer noch groß, aber jetzt war er rund, wo er früher viereckig gewesen
war. Sein Haar und sein Bart waren grau und seine Haut blass.
»Wer ist da?«, fragte er. Seine Augen
waren auf mich gerichtet, aber das Flattern seiner Augenlider verriet mir, dass
er mich nicht sehen konnte. Ich muss ihm als Schatten erschienen sein.
»Ich öffne die Vorhänge, dann kannst
du mich sehen«, sagte ich und versuchte, mit warmer und fester Stimme zu
sprechen.
»Nein!«, rief er, als ich nach den
Gardinen griff. Remus schüttelte den Kopf und flüsterte, dass Nicolais
ruinierte Augen das Licht nicht vertrügen.
Deshalb kniete ich neben meinem alten
Freund, hielt seinen Arm und brachte mein Gesicht so nahe an seines, dass ich die
schwammige Blässe der syphilitischen Gummen unter seiner Haut erkennen konnte.
Seine Augen richteten sich mühsam auf mein Gesicht. Plötzlich atmete er tief
ein. Er hob eine zitternde Hand, um meine Wange zu berühren.
»Kann es denn wahr sein? Remus, sag mir,
dass es stimmt!«
»Nicolai, er ist es wirklich. Moses
ist nach Wien gekommen.«
»Gott segne uns!«, rief Nicolai, nahm
meinen Kopf in die geschwollenen Hände und zog mich an seine Brust. Er
schluchzte in mein Haar, und ich weinte an seiner Brust, und dann hob er mein
Gesicht, um mich noch einmal anzusehen. Mit seinen trüben Augen betrachtete er
jeden meiner Gesichtszüge, bis er sie ganz erfasst hatte.
»Du bist so schön geworden wie ich
hässlich«, sagte er.
Ich wusste nicht, was ich sagen
sollte, denn er hätte wirklich nicht auf die Straße gehen können, ohne dass die
Leute ihn angestarrt und für ein Monster gehalten hätten. Ich dagegen verspürte
keinen Abscheu und sagte ihm das.
»Ich habe all das und mehr verdient«,
sagte er.
»Unsinn«, sagte ich. »Das ist Unsinn.«
Nicolai sah auf Remus und dann wieder
auf mich. »Ich kann den ganzen Tag lang nichts anderes tun, als hier zu sitzen
und daran zu denken, dass ich die einzigen beiden Freunde, die ich je hatte, im
Stich gelassen habe.«
»Nicolai«, sagte Remus scharf, »fang
jetzt nicht damit an. Noch nicht. Heute wollen wir glücklich sein. Endlich ist
Moses wieder bei uns.«
»Und nichts habe ich mir sehnlicher
gewünscht«, sagte Nicolai
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