Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
mit Tränen in den Augen, »damit ich ihm sagen kann,
wie leid es mir tut, was ich getan habe. Was ich zu tun versäumt habe.«
»Versäumt?«, sagte ich. »Nicolai, du
warst mir ein Vater. Du hast mir das Leben gerettet! Ich habe dir nie Vorwürfe
gemacht.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte
dich nie bei diesem Mann lassen dürfen. Wir hätten die Abtei Jahre vorher
verlassen sollen. Die Welt stand uns offen, und wir haben keinen Gebrauch davon
gemacht.«
»Nicolai«, bat Remus. »Jetzt nicht. Du
wirst …«
»Wir hätten gehen sollen!«, brüllte
Nicolai seinen Freund an, und dann hielt er sich die weichen, geschwollenen
Hände vor die Augen. Remus senkte den Kopf.
Nicolais Hände wanderten vom Gesicht
zu den Schläfen, und ich hörte, wie seine Atmung schwer wurde, als ihn
Kopfschmerzen befielen, weil die weichen Wucherungen in seinem Gehirn mit Blut
anschwollen. Ein klägliches Wimmern wie das Keuchen eines Erstickenden kam aus
seinem beengten Hals.
Ich nahm seinen Arm und versuchte, ihn
zu beruhigen. »Nicolai, kann ich etwas für dich tun?«
Remus jedoch kannte die einzige
Abhilfe und holte die Opiumtinktur, die Nicolais Schmerzen lindern konnte.
Meine Berührung hatte keine andere Wirkung, als dass Nicolai die Augen wieder
öffnete. Eine Hand ließ die Schläfe los und umklammerte mein Handgelenk so
fest, dass ich befürchtete, er würde es zerquetschen.
»Bitte verzeih mir«, sagte er.
»Es gibt nichts zu verzeihen.«
Dann war Remus da und gab ihm die
Tinktur in den Mund. Nicolai leckte sie begierig auf. Bald war sein Blick noch
schwächer geworden, und er schloss die Augen. Er sackte in seinem Sessel
zusammen.
Remus und ich blieben mehrere Minuten
lang neben unserem Freund stehen, dann nahm Remus ein Kissen und legte es als
Stütze unter Nicolais schlaff zur Seite hängenden Kopf. Seine Hand blieb einen
Moment auf der Wange seines Freundes liegen, eine so liebevolle Geste, wie ich
sie noch nie bei diesem Mann gesehen hatte.
Remus lächelte traurig. »Es ist gut,
dass du hier bist, Moses«, sagte er.
Ich umarmte ihn. Sein Körper war steif
und reagierte nicht auf meine Berührung, aber er ließ seine Hand eine Weile auf
meinem Arm liegen. Als er sie wegnahm, wischte er sich Tränen aus den Augen und
sah zur Seite, als schäme er sich. Ich führte ihn zu dem kleinen Tisch, auf dem
unzählige Dinge herumlagen. Er setzte sich auf den einen Stuhl, ich nahm den
anderen.
Ein paar Minuten lang sprach keiner
von uns.
»Fünfundvierzig Jahre«, begann Remus
plötzlich. »Es ist wirklich schwer zu begreifen. Er hat mehr als fünfundvierzig
Jahre in der Abtei verbracht, und fast genauso lange sprach er davon
fortzugehen. Es war ein Wunder, dass sie ihn überhaupt aufgenommen haben –
dieses Kind, das eines Nachts in ihrer Kirche ausgesetzt wurde. Die Abtei ist
nie ein Waisenhaus gewesen, und trotzdem haben sie für Nicolai eine Ausnahme
gemacht.
Als ich ihn zum ersten Mal sah, war er
schon ein Riese. Er war der einzige Novize, der mit mir sprach. Ich fand seine
Sehnsucht nach der weiten Welt so unwiderstehlich – wir haben dreißig Jahre
lang bestimmt jeden Tag darüber gesprochen, wie es wäre, sie zu sehen. Dreißig
Jahre! Und am Ende war es immer meinetwegen, dass wir blieben – meine Bücher,
mein Bedürfnis nach Ruhe. Wir sind nicht einmal aus der Stadt herausgekommen.
Und als wir schließlich nach Rom reisten, wollte ich vom ersten Tag an
umkehren, obwohl ich jede einzelne Minute genoss. Mein Gott, ich war so
glücklich im Vatikan! Trotzdem sagte ich jeden Tag zu ihm: ›Nicolai, wir müssen
nach Hause!‹«
Remus legte sich die Hand vor den
Mund. Er nahm einen tiefen Atemzug, bevor er fortfuhr.
»Weißt du, ich habe unsere Situation
nie richtig verstanden. Ich war so dumm. Erst als sie uns in Melk nicht
aufnehmen wollten, wurde mir plötzlich klar: Wir waren seinetwegen in der Abtei
geblieben, nicht meinetwegen. Als wir zur Donau hinuntergingen, nachdem man uns
abgewiesen hatte, erfasste mich eine schreckliche Angst. ›Nicolai, wir müssen
zurückkehren!‹, rief ich. ›Zurück in die Berge. Irgendein Kloster nimmt uns
bestimmt auf!‹ Ich wäre überallhin gegangen, hätte auch mit einem Schweinestall
vorliebgenommen, der sich Abtei genannt hätte. Keine Bücher? Gleichgültig. Ich
hätte mit ihm in einer einsamen Höhle gelebt. ›Wir finden eine andere Abtei‹,
sagte ich. ›Staudach kann nicht an alle geschrieben haben.‹ ›Unsinn‹,
antwortete er. ›Verstehst du nicht! Gott
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