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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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verdient. Und deshalb gebe ich sie dir: Italien hat mich
kastriert.«
    Ich stellte mir eine Armee von
Rapuccis vor, die in italienischen Landen ausschwärmte und von einem bösen
König mit einer Mitra auf dem Kopf kommandiert wurde. Aber so etwas hatte mein
Maestro nicht gemeint. Er hielt einen Finger in die Höhe.
    » Mio
fratello, Kastraten sind so alt wie das
Messer, das sie verschneidet – keine Kultur ist frei von dieser Barbarei –,
aber solche wie du und ich sind unter ihnen eine Klasse für sich. Bedenke: Im
alten Ägypten, in Griechenland und Rom, in Indien und in islamischen Ländern
war der kastrierende Schnitt immer eine Demütigung. Verschnitten zu werden,
hieß von einem Mann zu etwas Geringerem gemacht zu werden – zu etwas Einfachem,
etwas Zahmem.
    In London«, fuhr er fort, »zeigte mir
ein Mann einmal einen Bericht über die chinesischen Eunuchen, die in jenem Land
eine eigene Klasse von Dienern bilden. Nachdem alles komplett abgeschnitten
ist, erhalten diese Jungen ihre eingelegten Körperteile in einem Tongefäß. Sie
behalten dieses Gefäß immer bei sich. Sie stellen es auf ein Regal. Pao, so nennen sie es. Wenn
sie eine Beförderung anstreben oder den Dienst wechseln, bringen sie ihrem
neuen Herrn den pao , dieser hebt den Deckel und inspiziert, was der Mann verloren hat, als
wäre es ein Leumundszeugnis.«
    Ich schluckte und zog an meinem
Kragen. Guadagni lachte. »Erfüllt dich das mit Abscheu?«, fragte er. »Das
sollte es nicht.«
    »Sie müssen … es in einem Gefäß
aufbewahren?«, murmelte ich.
    »Ja«, sagte er. »In Spiritus. Ich
nehme an, sie wechseln die Flüssigkeit einmal im Jahr, damit sie nicht trübe
wird. Man soll es doch deutlich sehen.«
    »Bitte, sprecht nicht darüber«, bat
ich.
    Er kicherte. »Gut«, sagte er. »Keine
eingelegten pao mehr. Dann erzähle ich dir lieber von Griechenland und Rom, diesen angesehenen
Zivilisationen. Dort verschnitten sie Jungen, wie man Sträucher schneidet –
fünfzig oder mehr gleichzeitig, obwohl etwa zwanzig von jeder Gruppe an den
Verletzungen starben. Bis zum Bauch schneiden, nannte man es; nur ein kleines Loch blieb übrig. Diese
Verstümmelung machte sie zahm, so glaubte man, und deshalb waren sie als
Sklaven überaus begehrt. Und sie mussten nicht etwa Löcher graben oder Böden
wischen. In Gold gekleidet, die Körper mit Öl eingerieben, fütterten sie ihre
Herren, schenkten Wein ein oder massierten alternde Rücken. Ihre Körper waren
Gefäße, über die ihre Herren nach Belieben verfügen konnten. Nero ist
vielleicht der berüchtigtste unter ihnen. Er hatte einen Kindersklaven, Sporus,
den er mehr als alle anderen liebte. Ein unschuldiger, schöner Knabe. Er befahl
seinem Arzt, Sporus’ männliches Organ restlos abzuschneiden, und als der Junge
verheilt war, kleidete Nero ihn in einen Brautschleier und heiratete den
kleinen Eunuchen. Dann deflorierte er ihn auf dem kaiserlichen Bett.«
    Jetzt konnte ich kaum noch atmen. Ich
hatte gewusst, dass viele Jungen ein so schlimmes Geschick wie ich erlitten
hatten, aber jetzt erfuhr ich, dass viele noch mehr erlitten hatten – viel,
viel mehr.
    »Könnten wir einen Augenblick
anhalten«, fragte ich schwach. »Ich würde gerne ein paar Schritte tun.«
    »Aber das ist gar nichts«, machte mein
Maestro weiter, und seine gleich bleibende Stimme schien mich auf meinem Sitz
festzuhalten. »Nero und sein Sporus. Geradezu zartfühlend, wenn man andere
Beispiele betrachtet. Lies einmal das Evangelium des Matthäus. Der Apostel lobt
die ehrenwerten ›Eunuchen, die sich selbst zu Eunuchen gemacht haben‹. Mein Gott! Es ist eine
Sache, wenn andere das Schneiden übernehmen, aber eine ganz andere, wenn man es
sich selbst antut. Und wie viele hat Matthäus’ Weisheit dazu gebracht, zum Dolch zu
greifen? Tausende. Gelehrte, Mystiker, Dummköpfe. Ich habe von einem
ekstatischen Ritus im alten Anatolien gelesen: Am ›Tag des Blutes‹ versammelten
sich Männer auf einem Berg, beteten gemeinsam zu einem freundlichen,
fürsorglichen Gott und verstümmelten sich dann selbst mit den Scherben
zerbrochener Tongefäße.«
    Ich öffnete die Tür, um Luft zu
bekommen, obwohl die Kutsche immer noch dahinrollte. Ein leichter Regen fiel
auf meine Schuhe, aber die Luft war wie ein kühles, feuchtes Tuch auf meiner
brennenden Stirn.
    Guadagni lachte und zog an einer Locke
meines Haares, wie es ein älterer Bruder tun mochte. » Mio fratello, denk nicht mehr
daran! Erkennst du es nicht? Diese armen Teufel

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