Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
ihm
eine Linie, die er nicht überschreiten durfte – einen Abgrund. Er schüttelte
den Kopf. »Das musst du überwinden.«
»Ich werde es nicht überwinden«, sagte
sie heftig. »Das habe ich dir schon so oft gesagt.«
»Amalia, sei nicht töricht«, ermahnte
er sie. »Schöne Musik kann man doch nicht verabscheuen.«
»Du kannst mich nicht ändern.«
Sein Blick wurde härter, und ein
Lächeln huschte über sein Gesicht. Ach, schien es zu sagen, ich
bekomme alles, was ich will. Du wirst schon sehen.
»Gut«, sagte er. »Ich werde nicht
versuchen, es zu ändern. Wenn es sein muss, kannst du jeden Laut hassen, den du
hörst. Aber du musst vernünftig sein, wirklich, Amalia. Man kann sich nicht
immer nur vergnügen. Man hat Pflichten.«
Ich hörte, dass sie sich auf dem Bett
bewegte. Hatte sie sich aufgesetzt? »Anton, erinnerst du dich, was du gesagt
hast, als du mich im Haus meines Vaters abgeholt hast?«, fragte sie. »›Alles,
was du willst. In Wien wirst du frei sein.‹«
»Du bist ja auch frei«, sagte er,
immer noch lächelnd, aber nicht weit unter der Oberfläche lauerte die Wut.
»Gibt es irgendetwas, das ich dir versage?«
»Du versagst mir die Freiheit, durch
die Stadt zu laufen. Eine eigene Kutsche, über die ich frei verfügen kann.«
»Aber wirklich, Amalia! Du bist eine
Dame. Eine Riecher. Wir sind hier nicht in einem Schweizer Bergdorf. Sieh dich
um! Ich gebe dir alles, was du dir nur wünschen kannst. Die Kutsche, über die
du dich beklagst, ist so schön wie die eines jeden Prinzen. Dieses Haus, diese
Kleider! Gaetano Guadagni singt für dich . Und mehr noch. Bei der Premiere wirst du vor allen
anderen sitzen, und sie …«
»Worüber sprichst du? Welche
Premiere?«
Anton zuckte zusammen. Er hatte sich
verplappert.
»Antworte mir.« Das Bett knarrte, als
sie aufstand.
»Der neue Orpheus natürlich«, sagte er leichthin. »Du hast doch sicher
davon reden gehört.«
»Aber wir können nicht hingehen.« Ihre
Stimme war ausdruckslos, und doch hörte ich die Angst in ihr.
»Und warum nicht?« Ein unschuldiges,
zärtliches Lächeln.
»Weil wir fortgehen.«
Anton schüttelte den Kopf, doch sein
herablassendes Lächeln wurde nur noch breiter. »Amalia«, sagte er.
»Du hast mir versprochen, dass wir
Wien für eine Weile verlassen!«, rief sie mit plötzlicher Heftigkeit. Sie ging
mehrere Schritte auf ihn zu und gelangte in mein Blickfeld. Ihre Augen waren
noch von ihren Tränen gerötet, jetzt aber war sie zornig.
Er wich einen kleinen Schritt zurück.
»Dein Zustand erlaubt es nicht zu reisen.«
»Anton! Deshalb wollte ich ja vor
einem Monat aufbrechen!« Ihre Hände krallten sich unterhalb der Brust in den
Stoff ihres Kleides, als wolle sie es zerreißen.
»Wie dem auch sei, jetzt ist es zu
spät.« Er versuchte, ihre Hände zu ergreifen, aber sie wehrte ihn ab.
»Das ist es nicht!« Sie kniff das
Gesicht zusammen und unterdrückte die Tränen. »Ich muss aus dieser Stadt fort,
bevor das Kind kommt.« Sie wies anklagend mit dem Finger auf sein Gesicht. »Du
hast versprochen, dass wir den Winter auf dem Land verbringen.«
»Aber meine Mutter …«
»Gott verdamme deine Mutter!«
»Amalia!« Er griff nach ihrem Arm und
schüttelte sie heftig. Die andere Hand hob er in die Höhe, als wolle er sie
schlagen.
Ich umklammerte den Türgriff. Wenn er das tut, dachte ich.
Aber sie blickte lediglich auf seine
erhobene Hand. Ihr Blick war eisig.
Sein Körper zitterte vor Wut. Aber er
ließ sie los. Noch immer gab sie nicht nach, sondern sah ihm fest in die Augen.
»Es ist nicht möglich, jetzt zu
gehen«, sagte er mit erzwungener Ruhe in der Stimme. »Meine Mutter wünscht,
dass wir noch einige Wochen hier bleiben …«
Amalia sprach jedes Wort deutlich aus.
»Ich werde nicht ihre fette Muttersau sein, die sie zur Schau …«
»Amalia, du bist nicht mehr in Sankt
Gallen«, sagte er tadelnd. »Hier sind wir in Wien. Du bist eine Riecher. Du
musst deine Situation verstehen. Die Familie Riecher wird einen Erben bekommen. Diese
Tatsache wird in deiner Person augenscheinlich, und bei der Premiere wird die
Kaiserin unserer Loge gegenübersitzen. Du kannst meiner Mutter nicht die Schuld
für das Los geben, das du dir selbst gewählt hast.«
Diese Worte schienen ein schmerzhafter
Schlag für sie zu sein. Das Eis in ihren Augen schmolz zu Tränen.
»Nein«, sagte sie leise, schüttelte
den Kopf und biss sich auf die Lippe. »Nein, das kann ich nicht. Ich kann nur
Gott die Schuld dafür
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