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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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freigesetzt durch die Musik, die in uns klang. Dann konnte sie
es nicht mehr aushalten. Sie schob sich durch die Menge und eilte aus dem Raum.
Jetzt hinkte sie.
    Ich blickte auf Guadagni. Der große
Kastrat sah sie weglaufen und lächelte beim Singen, denn er hatte schon
zehntausend Frauen zum Weinen gebracht, und hier, glaubte er, gab es eine
weitere Seele, die er in Besitz genommen hatte.
    Anton sah ebenfalls, dass seine Frau
ging, und als sie fort war, drehte er sich um, und sein Blick verweilte auf
meinem Gesicht. Vielleicht sah ich erschrocken aus, denn er lächelte
freundlich, als wolle er sagen: Oh ja, es gibt viel
Traurigkeit in dieser Welt. Wir beide aber, Ihr und ich, wir sind zufrieden.
    Ich erkannte meine Chance. Ich trat
den Rückzug durch die Menge an.
    Ich folgte ihr.

XI.
    Ich war ein geübtes
Gespenst. Meine Atemzüge waren nur ein stummer Lufthauch. Ich lauschte auf
näher kommende Füße, aber das Haus war leer; selbst die Dienstboten hörten
Guadagni beim Singen zu. Im Foyer sah ich die große Treppe hinauf. Weit oben
hörte ich ihre unregelmäßigen Schritte, und deshalb stieg ich hinauf. Der dicke
Teppich dämpfte jeden Tritt. Das Geländer knarrte nicht. Lampen zischten neben
mir. Im ersten Stockwerk blieb ich stehen. Es gab so viele Räume in diesem
Haus, sie reichten für eine ganze Armee von Riechers. Alte Porträts hingen an
jeder Wand, und ich spürte den Blick toter Riechers, die mich beobachteten.
    Im obersten Stockwerk schloss ich die
Augen. Ich hörte ein gedämpftes Schluchzen zu meiner Linken. Nach einigen
Schritten machte der Flur eine Biegung. Ich betrat einen separaten Flügel des
Hauses und wusste, dass hier Anton und Amalia lebten.
    Die letzte Tür stand offen, und ich
eilte auf sie zu wie ein durstiger Mann, der eine Quelle entdeckt hat. Ich
würde sie in den Armen halten! Aber dann zwang ich mich dazu, meine Schritte zu
verlangsamen – schon stampften Dienstboten die Treppe hinauf; die kurze
Vorstellung war beendet. Die Vernunft hielt mich zurück: Ich durfte sie nicht
erschrecken; ein Schrei würde alle meine Pläne durchkreuzen. Ich glitt lautlos
zu ihrem Zimmer.
    Sie lag auf ihrem Bett und hatte die
Hände über das Gesicht gelegt; ihr Kleid spannte sich über ihrem Körper.
    Wie angewurzelt blieb ich auf der
Schwelle stehen. Plötzlich wurde mir klar, was sich geändert hatte: die Form
ihres Körpers. Unter dem dünnen Musselinkleid wölbte sich ihr Bauch, der früher
ganz flach gewesen war.
    Eine plötzliche Hitze überkam mich,
denn die Erkenntnis dieses Augenblicks war zu viel: das Kind, das in ihr wuchs,
der Akt, der es geschaffen hatte, die zukünftige Familie, die es bedeutete. Dein Körper wird dir nicht erlauben, Vater zu werden, hatte der Abt vor vielen Jahren gesagt, und vor mir
lag jetzt ganz unverkennbar der Beweis für meine Unzulänglichkeit. Für kurze
Zeit hörte ich auf zu atmen. Die Hände vors Gesicht geschlagen, schluchzte sie
heftig, die Traurigkeit strömte aus ihr heraus, und allmählich gewannen meine
Ohren die Oberhand über meine Augen. Ich dachte an die teilnahmslose Frau im
Ballsaal, die so stumm wie eine umwickelte Glocke gewesen war. Diese Tränen
galten mir! Der Gedanke trieb mich einen weiteren geräuschlosen Schritt in den
Raum. Ich öffnete die Arme. Ich bin doch am Leben!, würde ich ausrufen.
    Aber ich hatte zu lange gezögert. Ich
hörte Antons langsame Schritte die Treppe heraufkommen. Er pfiff Händels Arie
falsch vor sich hin. Hier durfte er mich nicht finden. Schnell kehrte ich in den
Korridor zurück und schlüpfte im selben Augenblick durch die nächste Tür, als
sein fröhliches Pfeifen um die Ecke bog.
    Hinter der Tür fand ich keinen
Ausgang, sondern einen anderen Raum. Es war dunkel, aber ich sah, dass es ein
Kinderzimmer war. Mein Magen rebellierte und verzweifelt suchte ich nach einem
Ausweg, aber die einzige andere Tür führte in Amalias Zimmer.
    »Was für ein Sänger!«, hörte ich Anton
auf der anderen Seite der Tür ausrufen. »Eine Stimme wie Sonnenschein im
Sommer!«
    Ich hörte sie auf dem Bett rascheln
und war sicher, dass sie sich die Tränen aus dem schönen Gesicht rieb.
    »Fühlst du dich wieder krank?«, fragte
er.
    »Du brauchst dir keine Sorgen zu
machen.«
    »Die Musik?«, fragte er ungläubig.
»Kann es wirklich die Musik sein?«
    »Ich sagte doch, du brauchst dir keine
Sorgen zu machen.«
    Ich schlich mich zur Tür und spähte
durchs Schlüsselloch. Anton stand in der Mitte des Zimmers, als gäbe es vor

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