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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Rücken. Seine Entschlossenheit begann zu wanken. Ich hatte
diese Szene oft bei den Proben gesehen, und deshalb wusste ich, dass Eurydike
direkt hinter ihm stand. Er stand mit geschlossenen Augen vor dem Publikum.
    Als die beiden Liebenden sangen – als
sie ihn anflehte und er die Götter anrief –, begann Guadagnis Stimme ihre
Vollkommenheit zu verlieren. Es gelang ihm nicht, einen größeren Schmerz in
diese Noten zu legen. Er versuchte, lauter zu singen, aber das konnte er nicht,
und ich hörte, dass seine Stimme ihr flüssiges An- und Abschwellen verlor.
Jetzt schwoll sie nur noch kräftig an. Ich hörte einen Knall im vorderen Teil
der Bühne. Eurydike war auf die Knie gefallen. Sie konnte keinen Schritt mehr
gehen. Wenn er sie nicht liebt, soll er sie in dieser schrecklichen Höhle
zurücklassen.
    Er schafft es nicht, sie
zurückzuweisen. Wie haben die Götter etwas so Grausames verlangen können? Er
wird ihr in die Augen sehen.
    Ich drehte mich zu Nicolai um und
erwartete, ihn beim Klang dieser Musik weinen zu sehen, aber zu meiner
Überraschung zeigte sein Gesicht keinen Schmerz. Er hatte sich auf einen
Ellenbogen gestützt und betrachtete prüfend die Unterbühne. Ich glaubte sogar,
ein Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen. Seine Augen waren trübe, aber
er war so in die Musik vertieft, als versuchte er, jedes Wort zu verstehen, das
die Liebenden sangen.
    Orpheus wendet sich seiner geliebten
Frau zu, um sie zu umarmen, und gerade als sein Wille schließlich gebrochen ist

    Nicolai setzte sich auf. Er stöhnte
dabei vor Anstrengung, und Remus drehte sich besorgt zu ihm um. Aber Nicolai
hatte keine Schmerzen. Er griff in seine Jacke, zog ein zusammengefaltetes
Stück Papier heraus und reichte es mir. Es glich dem Brief, den ich Amalia
gebracht hatte. »Moses«, sagte er. »Es tut mir leid. Ich habe dich getäuscht.«
    Dieser Brief war ordentlich gefaltet,
und das blaue Siegel war vollkommen rund – genauso wie Remus es gemacht hatte.
Ich brach es. Hier war der Brief, den ich eigentlich übergeben sollte. Ich sah
auf und blickte in Nicolais trübe Augen. Warum hatte mein Freund mich betrogen?
Er hatte ein merkwürdiges Lächeln im Gesicht.
    »Moses«, flüsterte er. »Verstehst du
nicht? Eine Liebe wie die eure kann nicht auf Papier ausgedrückt werden. Nur
mit der Schönheit deiner Stimme.«
    Ich zitterte. Ich wusste nicht, was er
meinte. Er lächelte. Über uns knarrten die Dielen, als Eurydike aufstand, um
ihren Geliebten zu umarmen. Die beiden traten aufeinander zu.
    Nicolai begann durch die Höhle zu
kriechen.
    »Nicolai!«, flüsterte Remus. Aber
Nicolai hörte ihn nicht.
    Orpheus und Eurydike umarmten sich.
Sie las in seinen Augen, dass er sie liebte. Einen Moment lang waren sie selig,
dann starb sie in seinen Armen.
    Das Theater verstummte. Orpheus hatte
seine Eurydike umgebracht. Keiner atmete. Keiner bewegte sich. Es gab keine
Hoffnung mehr.
    Aber hier in der Unterbühne, im
sanften Schein der Lampe kroch Nicolai durch Tassos Höhle und stöhnte bei jeder
Bewegung. Remus folgte ihm, versuchte, seinen Fuß zu ergreifen, wollte damit
die Hoffnung aufhalten, bevor sie den Abend zerstörte, bevor sie die Kaiserin
verärgerte, bevor die Hoffnung Nicolai und ihn aus der Stadt vertrieb, wie die
Wut sie aus Sankt Gallen vertrieben hatte. Auch Tasso erkannte, dass etwas
nicht stimmte. Seine Pranken zitterten vor seiner Brust. Er trippelte an die
Seite des Riesen und zischte: »Sei still!«
    Ich konnte mich nicht bewegen. Ich war
verwirrt. Welches Schicksal erträumte Nicolai für mich?
    Orpheus legte seine tote Frau auf die
Bühne und stand über ihr. Das Orchester spielte nicht. Es wartete, dass der
Maestro zu singen begann.
    Nicolai spähte nach oben zur Bühne –
schaute, hörte zu. Ein Knarren. Guadagni trat zurück, weg von der Leiche, weg
von seiner toten Frau. Nicolai kroch auch zurück, sein Gesicht nur ein paar
Zoll unter Guadagnis Füßen. Nicolai schnüffelte. Remus hielt Nicolais Fuß mit
beiden Händen fest, und Tasso stieß gegen Nicolais Schulter. Aber Nicolai, der
sein Gesicht zu den knarrenden Schritten über ihm erhoben hatte, war stärker
als beide zusammen.
    Guadagni blieb stehen, stellte sich in
die Mitte der Bühne, um die größte Arie dieser Oper zu beginnen …
    Und Nicolai sprang. Er zog Remus und
Tasso einfach hinter sich her wie lästige Anhängsel. Seine Hand streckte sich
zu einem Seil aus. Seine Finger ergriffen es. Er zog.
    Die Falltür unter Orpheus’

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