Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Brief abstoßend
findest, und gib ihn zurück.
Moses
Ich sah, wie ihre Augen das Papier
prüfend betrachteten. Ihre Vorstellung war grandios. Ihr Gesicht, auf dem sich
heftige Gefühle stets so lebhaft abgezeichnet hatten, zeigte nur Verwirrung,
dann ein Aufblitzen von Abscheu. Dann Verärgerung. Sie sah mich böse an.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte
sie. Meine Schauspielkunst war längst nicht so gut wie ihre, aber mir gelang
ein Achselzucken.
Dann drehte sie zu meinem Entsetzen
den Brief um und zeigte ihn allen in der Loge.
Das Papier war leer. Anton nahm ihr
das Blatt aus der Hand und untersuchte beide Seiten. Auf der cremeweißen Oberfläche
war nichts zu entdecken, keine versteckte Botschaft.
»Erkläre Er das«, befahl Graf Riecher.
»Seht sein Gesicht an«, sagte Anton.
»Weiß wie ein Laken. Guadagnis Eunuch ist ebenso überrascht wie wir.«
Kurz sah ich Ärger und Verlegenheit
auf Amalias Gesicht, bevor sie sich abwandte. Ihr Mann tätschelte ihre
Schulter.
»Verschwinde Er«, befahl Gräfin
Riecher. Eifrige Hände entfernten mich, als wäre ich eine leblose Puppe aus
Papier.
XIV.
Gerade als Gluck seinen
Platz für den dritten Akt einnahm, versank ich in der Unterbühne. Remus
erwartete meinen Bericht, aber als er mein aschfahles Gesicht sah, wusste er,
dass etwas schiefgegangen war.
»Da stand nichts«, sagte ich. »Die
Worte waren verschwunden.«
»Was?«, rief Remus und schlug seine
Faust gegen die Stirn. Ich erzählte ihm genau, was passiert war, schilderte ihm
das Geheimnis des leeren Papiers.
»Aber das ist unmöglich«, flüsterte
Remus, als das Orchester einsetzte.
»Du hast wohl Zaubertinte benutzt«,
schimpfte Nicolai.
»Ich habe dieselbe Tinte genommen, die
ich immer benutze«, sagte Remus. »Wie kann das nur passiert sein?«
»Leg dich hin«, sagte Nicolai zu mir.
Er nahm meine Hand. »Wir denken uns etwas anderes aus. Wir haben noch Zeit.
Wenn uns nichts Besseres einfällt, lassen wir Remus am Ende der Oper eine neue
Botschaft überbringen.«
Remus’ Augen weiteten sich vor
Schreck.
»Liegt still«, sagte Nicolai zu uns.
»Die Musik wird uns sagen, was wir tun sollen.«
Im dritten Akt waren die Liebenden
allein in der stygischen Höhle. Ihre Hand lag in seiner, er war darauf bedacht,
sie nicht anzusehen. Es gab keine Furien, keinen Chor, keine Tänzer. Die
Liebenden drohten sich in rankenden Pflanzen zu verfangen. Herabgestürzte
Felsblöcke lagen auf ihrem Weg. Die schwach flackernden Rampenlichter warfen
groteske Schatten auf den Prospekt. Das Publikum hörte zu und betete darum,
dass Orpheus die Kraft finden würde, seinem Schicksal zu entgehen.
Auch ich betete um mein Schicksal.
Waren mir wirklich nur Verlust und Scheitern bestimmt? Schon wieder war sie mir
entglitten, und wenn ich keinen Weg fand, mich ihr zu zeigen, würde sie morgen
abreisen. Würde ich ihr folgen? Natürlich. Ich würde ihr folgen, selbst wenn
das bedeutete, sie für immer zu jagen wie ein Pilger, der den Horizont jagt.
Die Liebenden standen auf der Bühne
über uns. Durch Ritzen zwischen den Bodendielen schimmerte goldenes Licht, und
Orpheus sang, dass Eurydike sich beeilen solle. Sie fragte ihn, warum er sie
nicht umarme. Was ist aus meiner Schönheit geworden?, wollte sie wissen. Was
ist aus deiner Liebe geworden?
Orpheus konnte nicht antworten, aber
die Zuhörer wussten, dass er tausend Höllen durchqueren würde, um sie zu
retten.
Tasso saß auf seinem Hocker wie eine
Statue und betrachtete die winzige Flamme der Lampe. Die Seile über seinem Kopf
waren wie ein Spinnennetz. Erst als Orpheus und Eurydike über ihm vorbeigingen,
sah er nach oben – wie ein Mann, der eine Maus in der Zimmerdecke hört.
Ich schloss die Augen. Die Körper der
Violinen klangen mit Eurydikes Stimme, die klar und stark war, auch wenn es ihr
schwerfiel, Orpheus zu folgen. Im Publikum waren viele Körper auf Guadagni
eingestimmt, und obwohl er seine Rolle alleine sang, entstand so der Eindruck,
dass viele Menschen mit ihm summten. Wenn Glucks Ohren das hören konnten, hätte
er seine Zuhörer sicher am liebsten wie Glocken an der Decke aufgehängt, damit
die Schönheit seiner Musik in jede ihrer Fasern drang.
Auf der Bühne flehte Eurydike Orpheus
an, sie anzusehen, und sei es nur für einen Moment. Ihr Gesang war hoch und
durchdringend; ich fühlte ihn in der weichen Haut hinter meinen Ohren, als
würde ich dort mit einer Feder gekitzelt. Für Orpheus waren diese Schreie wie scharfe
Dolchstiche in den
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