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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Füßen
öffnete sich.
    Gaetano Guadagni fiel schwer in die
Unterbühne, und Nicolai war über ihm, bevor der Sänger schreien konnte. Er
presste Guadagni auf den Boden und hielt ihm mit einer riesigen Hand den Mund
zu. Dann drehte er sich zu mir. Er ließ seinen Kopf nach oben schnellen – in
Richtung des viereckigen Loches über ihm, durch das das staubige Theaterlicht
hereinströmte.
    Er blinzelte, denn das Licht tat
seinen ruinierten Augen weh, und sagte: »Bitte, Moses. Bitte. Überbringe deine
Botschaft.«

XV.
    Ich konnte mich nicht
bewegen.
    Dort?, dachte ich. Da oben?
    Dann blickte Remus auf seinen riesigen
Freund – seinen Gefährten seit dreißig Jahren – und schüttelte den Kopf. Er
zuckte die Achseln. Das war alles schon viel zu weit gegangen. Zu spät, um den
Kurs zu ändern.
    Er schlug zu wie ein räuberischer
Wolf. Er stürzte zu mir und riss mir Jacke und Kragen ab. Er zerriss mein Hemd
auf der Vorderseite, so dass es Orpheus’ Tunika ähnelte. Ich hatte keine Zeit
zum Nachdenken, als er mich zu der Versenkung zerrte.
    »Dämpfe das Licht ein wenig«, zischte
Remus Tasso zu. Tasso, der sich nicht bewegt hatte, seit der große Kastrat in
die Unterbühne gefallen war, reagierte prompt wie ein Seemann, der im Sturm den
Befehl seines Kapitäns hört, und sprang zur Winde.
    Ich kauerte unter der Versenkung.
Remus legte seine Hände vor dem Bauch ineinander. Nicolai lächelte, die Augen
voller Tränen, die Pranke immer noch auf Guadagnis erschrecktes Gesicht
gepresst. Remus nickte. »Schnell, Moses«, flüsterte er.
    Es war nur ein kleiner Schritt, meinen
Fuß in Remus’ Hände zu stellen, und ich tat ihn. Ich ergriff die Kanten des
Bühnenbodens. Ich dachte: Ich kann immer noch
umkehren. Aber Remus – welche Kraft du
hattest!
    Er knurrte, und ich wurde in die Höhe
gehoben. Das Theater erschien. Ich machte einen Schritt.
    Ich stand auf der Bühne. Zu meinen
Füßen die Leiche der Geliebten eines anderen Mannes. Vor mir vierzehnhundert
Augenpaare. Ich schwankte leicht. Im Theater war es ganz still.
    Hatten sie es bemerkt? Hatten sie
ihren Helden fallen sehen? Hatten sie erkannt, dass er größer, jünger und
verliebter zurückgekehrt war? Tasso hatte das Rampenlicht gedämpft, und ich
wurde nur von der Seite beleuchtet. Als ich in das Meer von Augen blickte, sah
ich kein Misstrauen, keinen Ärger. Vielmehr schauten sie mit den verzauberten
Augen von Kindern auf mich. Die Augen sagten: Orpheus!
Sing für uns! Sing!
    Ich warf einen Blick auf die Kaiserin.
Sie schaute mich an, als würde sie mich gut kennen. Gluck blinzelte, mein
Anblick schien ihn unsicher zu machen, aber trotzdem hielt er die Hände in die
Höhe – bereit, das Orchester zu führen, sobald Orpheus zu singen begann.
    Dann fand ich Amalia. Wir sahen uns in
die Augen, aber sie erkannte mich nicht. Sie schien nicht zu atmen. Sie war wie
eine Statue.
    Ich formte die Lippen zu einem festen
Kreis und atmete aus. In meinen Ohren tönte das wie ein Sturm in dem stillen
Theater. Ich blies, bis sich meine Schultern über meinen Lungen
zusammendrückten. Dann fielen meine riesigen Rippen zurück. Ich öffnete weit
den Mund, und Luft floss durch meinen Hals nach unten. Ich wurde größer und
breiter. Luft strömte in meine Lungen und zerrte an den Muskeln zwischen meinen
Rippen.
    Ich sang.
    Ahimè! Dove trascorsi! Ove mi spinse un delirio
d’amor!
    »Weh mir! Götter, was tat ich? Zu
welchem Schritte riss die Liebe mich hin?«
    Es schien kaum ein Flüstern zu sein,
aber meine Stimme nahm das Theater in Besitz. Gluck stockte der Atem und er
riss die erhobenen Hände auseinander. Sein Gesichtsausdruck wechselte von
misstrauisch zu schockiert. Die zusammengepressten Lippen der Kaiserin öffneten
sich. Alle Personen im Theater bewegten sich ein wenig vor Verwunderung. Einige
setzten sich gerader auf. Andere fielen in sich zusammen, als wäre eine Stütze
entfernt worden. Hände klammerten sich an Brüstungen. Hacken kratzten über den
Boden. Im Paradis reckten sich vierhundert Hälse näher zur Decke.
    Amalia nahm die Hände von der Brüstung
der Loge und legte sie an die Wangen. In ihr tobte plötzlich ein Sturm. Sie war
die Einzige im Publikum, die diese Stimme schon gehört hatte. Bei diesen ersten
Noten sagte sie sich, es sei ein grausamer Trick, Ausgeburt ihrer törichten,
hoffnungsvollen Fantasie – aber trotzdem brachen alle Mauern. Sie schloss die
Augen und hielt die Tränen zurück, und als sie mich mit ungetrübten Augen
wieder ansah und

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