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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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ich ihren Blick erwiderte, erkannte sie, dass dieser Musico
vor ihr auf der Bühne ihr Moses war – und sie verstand alles.
    Gluck hatte einen Augenblick gezögert,
die Hände immer noch in die Höhe gehoben. Er starrte mich an. Seine Augen
weiteten sich, denn vor ihm stand ein Gespenst. Gluck hörte, dass die Musik,
die er geschrieben hatte, wie in seinen Träumen gesungen wurde.
    Einen Augenblick später ist Gluck
wieder der große Maestro. Seine Hände sausen durch die Luft. Das Orchester
gehorcht, und die Bogen der Violinen streichen über die Saiten. Ich fühle ihren
Klang in meiner Brust. Als ich singe, ist meine Stimme riesig. Sie prallt von
den Wänden ab und kehrt aus jeder Ecke zurück. Gluck schwankt nach hinten, als
würde ein Wind blasen. Seine Augen sind geschlossen.
    Dann entsteht eine Pause – Stille.
Glucks erhobene Hände scheinen nicht nur sein Orchester, sondern jeden Menschen
im Theater zu dirigieren. Seine an die Zeigefinger gepressten Daumen umklammern
jeden Atemzug. Als er seine Finger spreizt, senken sich vierzehnhundert
Schultern. Und als er sich dann auf die Zehenspitzen stellt und seine Hände so
hoch wie möglich ausstreckt, weiten sich vierzehnhundert Lungen. Glucks Arme
sausen durch die Luft.
    Ich fühle mich nackt auf der Bühne,
aber ich will, dass Amalia jede Rundung meines Gesichts sieht. Die Lippen der
Kaiserin sind immer noch geöffnet, als hätte sie Durst. Ich beginne mit
Orpheus’ großer Klage, wie Guadagni es getan hätte: jede Note wie mit einem
scharfen Messer geschnitten.
    Viele Augen schließen sich. Körper
verdrehen sich ein wenig. Sie dürsten nach Orpheus’ reiner Trauer. Anscheinend
bekommt die Kaiserin keine Luft. Ihr Mund ist weit geöffnet. Tränen steigen in
ihre Augen. Als meine Musik anschwillt, legen viele den Kopf zurück und winden
sich, um meinen Gesang mit dem Körper zu spüren. Glucks Augen sind geschlossen.
Seine Arme stoßen herab wie Flügel. Aber er hat die Kontrolle nicht verloren.
Seine Bewegungen sind präzise. Seine Musiker reagieren auf jede seiner Gesten so
aufmerksam, als wäre er ein Hexenmeister, der sie verzaubert hat. Auch ich
lasse mich von seinem Metrum führen. Er ist der Herr dieser Musik.
    Ich singe.
    Amalias Hände ergreifen die Brüstung.
Sie beugt sich vor und drückt die Rundung ihres Bauches an das Holz, das mit
meiner Stimme klingt.
    Und dann ist es vorbei. Ein Summen
bleibt im Raum: Meine Stimme ist noch ein Flüstern in jeder Brust. Das
Orchester hört auf zu spielen. Gluck öffnet die Augen und strahlt noch einmal
das Gespenst an, das er ins Leben zurückgeholt hat.
    Ich trete zurück und falle.

XVI.
    In der Höhle hielt Nicolai
den entsetzten Guadagni wie ein Baby in den Armen. Er legte ihn auf den Aufzug
und flüsterte in gebrochenem Italienisch, es sei Zeit weiterzusingen, niemand
habe etwas bemerkt, sodass Guadagni ganz beruhigt sein könne, er sei immer noch
der Held des Abends. Dann gab er ihm zwei heftige Schläge.
    »Tutto bene!«, sagte Nicolai. Tasso zog an einem Seil, und der Aufzug hob sich in die
Höhe. Guadagni stieg wieder zur Bühne empor.
    Ich glitt aus der Kohlenrutsche
und rannte um die Ecke zum Eingang des Theaters. Dieses Mal würde ich sie nicht
verpassen. Ich griff nach der schweren Tür, und vor meinem inneren Auge stand
eine schöne Vision von Amalia, die im Foyer mit ausgebreiteten Armen auf mich
wartete …
    Aber die Tür schwang auf und schlug
mir ins Gesicht.
    Sie ließ mich die Treppenstufen
hinunterfallen. Ich lag auf der Straße und starrte in den Nachthimmel.
    Amalia hätte sich auf mich geworfen,
aber ihr Zustand ließ das nicht zu, also stieg sie die Stufen hinunter und
kniete sich neben mich. Dann küsste sie mich und sah mir endlich tief in die
Augen.
    Sie half mir aufzustehen. Eine Weile
klammerten wir uns aneinander.
    »Du lebst!«, sagte sie.
    »Ich lebe!«, sagte ich.
    »Du lebst!«, sagte sie noch einmal,
und wir hätten ewig so weitermachen können. Ihre Hände streichelten jeden Zoll
von mir, den sie erreichen konnten, ich drückte ihren warmen Körper in einer
festen Umarmung an mich.
    »Du lebst!«, sagte sie ein letztes
Mal, und ihre Tränen hinterließen durchsichtige Streifen auf meinem Hemd.
    »Es tut mir leid …«, begann ich, aber
sie schüttelte den Kopf und hielt einen Finger an meine Lippen.
    »Moses«, sagte sie. »Wir haben keine
Zeit. Wir müssen uns beeilen. Sie werden … sie wird …« Sie nahm meine Hand, zog
mich auf den Platz und sah sich hektisch nach

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