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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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nichts von
alldem. Ich war zu eingeschüchtert, um auch nur aufrecht zu stehen.
    Und dann ging der Abt auf Nicolai zu.
Er war nicht alt, aber er bewegte sich, als wäre jeder Schritt, den er
unsertwillen machte, eine Bürde. Nicolai krümmte die Schultern, als der wütende
Blick des anderen ihn traf.
    »Ich werde Euch wieder in diesem
Kloster aufnehmen, Bruder Nicolai, weil ich es muss, obwohl ich weiß, dass Ihr
unseren Weg nicht mitgeht. Es ist ein schwieriger Weg – und manche kommen davon
ab. Ich habe gehofft, Ihr würdet ganz davon abkommen und nicht zurückkehren.
Aber Ihr seid zurückgekehrt. Ihr werdet feststellen, dass wir während der Zeit,
in der Ihr abwesend wart, in dieser Abtei vorangeschritten sind.« Er zeigte durch das Fenster auf die Arbeiter in
der Grube, dann trat er noch näher an Nicolai heran und funkelte ihn von unten
an. Nicolai legte den Kopf zur Seite, als würde er ein Geheimnis zu hören
bekommen. »Ich rate Euch, nach diesem Fortschritt zu trachten, Bruder Nicolai«,
sagte der Abt. »Betrachtet ihn in den Gesichtern Eurer Brüder, in ihren Werken,
in unseren Predigten, in unseren Gesängen. Betrachtet ihn in der neuen Kirche,
die wir bauen. Aber betrachtet ihn nicht nur, Bruder Nicolai, bedenkt ihn. Habt
Ihr etwas zu dieser Schönheit beizutragen? Zu der Vollendung von Gottes Willen?
Oder behindert Ihr sie? Steht Ihr dem im Weg, was Gott für diese Abtei bestimmt
hat?«
    Nicolai öffnete den Mund, wollte etwas
sagen, sah aber dann auf Remus, als könne dieser ihm einen Hinweis geben,
welche der Fragen er beantworten sollte. Der Abt schüttelte den Kopf und
grunzte. Er wandte sich ab und wedelte mit der Hand, als er zu seinem
Schreibtisch zurückkehrte. »Ihr könnt hierbleiben, wenn Ihr das wünscht«, sagte
er. »Ihr könnt gehen – und in diesem Fall gebe ich Euch Gold mit auf den Weg.«
Dann aber kam der Abt noch einmal zurück. Er erhob drohend seinen Finger vor
Nicolai. »Aber wenn Ihr bleiben möchtet, steht uns nicht im Wege. Und wisset,
dass ich Euch beobachte und nur darauf warte, einen Grund zu haben, Euch
auszuschließen und Briefe an alle Äbte im Umkreis von tausend Kilometern zu
schreiben, damit Ihr nie wieder einen Tropfen Abteiwein zu trinken bekommt.«
    Der Raum schien sich um mich zu
drehen. Ich merkte, dass ich vergessen hatte zu atmen. Ich atmete mehrmals tief
durch, während der starre Blick des Abtes auf Nicolai gerichtet blieb. Nicolai
sah von den kalten Augen zu dem erhobenen Zeigefinger und wieder zurück. Der
massige Mönch wirkte so sanft und freundlich. Einen Augenblick glaubte ich
fast, er würde den kleinen Abt in die Arme nehmen. Konnte er diesen eisigen
Blick aufbrechen? Nicolai warf Remus einen kurzen Blick zu, als wolle er dem
gelehrten Mönch die Möglichkeit geben, dieses kleine Missverständnis unter
Brüdern zu beheben. Aber Remus sagte nichts. Also räusperte sich Nicolai, und
ein Ausdruck der Unsicherheit huschte über sein Gesicht.
    »V-Vater Abt«, begann er.
    Aber der Abt hielt eine Hand in die
Höhe und sagte langsam und leise: »Bringt diesen Jungen in das Waisenhaus von
Rorschach oder geht.«
    Wir folgten Remus im Gänsemarsch
auf den Platz der Abtei.
    »Es hätte schlimmer kommen können«,
sagte Nicolai, als der Pförtner die große Tür hinter uns schloss. Ich
befleißigte mich, so nahe wie möglich an Nicolais kräftigen Beinen zu bleiben,
damit mich niemand wegschnappen konnte. »Er hat gar nicht davon gesprochen,
dass wir verspätet zurückgekehrt sind oder dass wir all sein Geld ausgegeben
und weiteres in seinem Namen geliehen haben oder dass du jeden Mönch in Rom mit
deinen schlauen Sprüchen verärgert hast oder dass ich …«
    »Ich hab dir schon mal gesagt, dass die
Anrede ›Vater Abt‹ redundant ist«, sagte Remus. »Es heißt nämlich ›Vater
Vater‹.«
    »Er mag das.«
    »Er mag es, dich als Idioten dastehen
zu lassen.«
    Nicolai schnaubte. »Dafür sorgt er so
oder so.«
    Einen Moment lang sahen die beiden
Mönche auf die Grube, aus der sich die neue, vollkommene Kirche erhob, als wäre
sie die Quelle all unserer Sorgen. »Nun gut, Sokrates, was sollen wir tun?«,
fragte Nicolai. Ich drehte mich zu dem wölfischen Mönch um und erkannte, dass
dieser hässliche Mann mein zweitbester Freund auf der Welt war.
    »Was sollen wir tun?«, wiederholte
Remus.
    »Du hast doch bestimmt eine Idee.«
    »Ein Waisenhaus, Nicolai.«
    »Das Waisenhaus«, korrigierte Nicolai,
»war Staubdrecks Idee. Ich schicke Moses nicht in ein

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