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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Armenhaus.« Er lächelte
und zwinkerte mir zu, aber es gelang mir nicht, sein Lächeln zu erwidern.
    »Nicolai, es ist die einzige Lösung.«
    »Dann müssen wir eben warten«, sagte
Nicolai. Er zuckte die Achseln. Er tätschelte mir den Kopf. »Dann geben wir
Gott Gelegenheit, eine andere zu finden.«
    Nicolais Zelle im zweiten Stock
des Schlafgebäudes der Mönche war mit Eichenholz getäfelt. Ein Tisch, zwei
Stühle und eine mit braunem Samt gepolsterte Ottomane standen an den Rändern
eines Wollteppichs, der meine bloßen Füße wärmte wie Steine, die um ein Feuer
liegen. An einem Ende des Raumes standen ein großes Bett und ein Schrank, am
anderen gab es einen Kamin. Nicolai hob mich in die Höhe, sodass ich mich in
dem Spiegel sehen konnte, der über dem Kamin aus Marmor hing und klarer als die
klarste Pfütze war. Als er merkte, dass ich die beiden silbernen Kerzenständer
auf dem Kaminsims bewunderte, nahm er einen davon und drückte ihn mir in die
Hand. »Er gehört dir«, sagte er. »Einer reicht für mich.« Ich dankte ihm, aber
als er sich umdrehte, stellte ich ihn schüchtern auf den Tisch.
    Nicolai packte langsam aus und zeigte
mir die Schätze, die er auf seiner Reise erworben hatte: eine Perlmuschel, eine
Lederbörse, vollgestopft mit den Eintrittskarten von den vielen Opern, die er
gesehen hatte, eine Holzflöte – eines Tages würde er lernen, sie zu spielen,
versicherte er –, eine blonde Haarlocke, die seinen Hals rot anlaufen ließ, als
die goldenen Spitzen in der Sonne glänzten.
    Er entrollte ein Aquarell und fragte
mich, ob es nicht das schönste Bild sei, das ich je gesehen hätte. Beim Anblick
des Canal Grande in Venedig stockte mir der Atem. Ich hatte nicht gewusst, dass
ein Ort so farbenprächtig und lebendig sein konnte. Nicolai stellte das Bild
auf seinem Tisch auf. Wir betrachteten es einen Augenblick, und dann sah er auf
mich, und sein Gesicht war plötzlich sehr ernst. »Moses«, sagte er, »es ist
wirklich sehr wichtig, dass niemand außer Remus dich sieht. Das wird nicht
immer so sein, aber wir müssen Gott Zeit geben, damit er uns sagen kann, was
wir tun sollen. Wenn es an die Tür klopft, musst du dich hier verstecken.« Er
zeigte auf den Schrank, und dann musste ich üben, sehr still darin zu liegen.
    In dieser Nacht schlief ich auf der
Ottomane. Nicolai schnarchte in seinem Bett. Am Morgen wurde um Viertel vor
vier an unsere Tür geklopft, und er grollte beim Wachwerden, als wolle er den
Teufel Schlaf vertreiben, der ihn in seinem Bett festhielt. Um vier war er in
der provisorischen Holzkirche, um an der Vigil und den Laudes teilzunehmen. Ich
hörte, wie sich seine Stimme über die der anderen erhob. So ging es mehrere
Tage lang. Ich hörte, dass er der Einzige war, der zu diesen Gebetszeiten am
frühen Morgen nie zu spät kam, und dass seine sonore Stimme niemals schwankte.
Während ich auf meiner Ottomane lag und auf die schlafende Stadt vor unseren
Fenstern lauschte, hörte ich Nicolais volltönende Stimme, die klang, als wären
die Gesänge seine ureigensten Schöpfungen und nicht die Rezitation von
jahrhundertealten Werken.
    Prim, Stille Messe, Terz, Hochamt,
Sext, all das dauerte bis halb elf Uhr am Vormittag. Dann kam das Mittagessen,
von dem Nicolai mir brachte, was er Reste nannte, was für mich jedoch ein
unvorstellbares Festessen war: dicke Scheiben saftiges Lamm- oder Rindfleisch,
geräuchertes Schwein, Blutwurst, Käse, Trauben, Aprikosen, Äpfel, Mandeln. Er
versteckte diese Schätze in seinen Taschen und legte sie in meinen Schoß, damit
ich sie verschlingen konnte. Während ich aß, tranken wir aus einem Krug Wein,
von dem jedem Mönch zwei Maß pro Tag erlaubt waren, aber Nicolai nahm immer
etwas mehr. »Mein Körperumfang«, sagte er und klopfte sich auf den Bauch,
»verlangt das. Die Zwei-Maß-Regel ist für Leute von Staubdrecks Statur.« Um drei
Uhr ging Nicolai zur Vesper, und wieder erhob sich seine Stimme über die Stadt.
Dann erschien er kurz vor sieben noch einmal in der Tür, rosig vom Abendessen
und vom Wein, und ließ mich mit einem weiteren Festmahl zurück, das ich allein
verzehrte, während er die Komplet absolvierte, die sich unter dem Einfluss
seiner Sättigung zur höchsten Vollkommenheit aufschwang.
    Um acht Uhr begaben sich die Mönche in
ihre Zellen, und das hieß, dass Nicolai zurückkehrte, oft in Begleitung von
Remus, aber immer in redseliger Stimmung, sodass er bis in die dunkle Nacht
erzählte oder sang. Manchmal klopfte ein

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