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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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anderer Mönch neugierig an die Tür,
weil er sehen wollte, mit wem Nicolai sprach. Wenn dieser nur das erlaubte Maß
getrunken hatte, rief er durch die Tür, dass er ein einsamer Mönch sei, der
manchmal gerne zu den Wänden spreche, aber wenn es mehr gewesen war, brüllte er
gegen die Tür: »Geh weg! Der Prophet Moses spricht nur mit mir allein!
Verschwinde, du Schwachkopf!«
    Ich dachte jeden Tag an meine Mutter
und weinte so viel, dass meine salzigen Tränen Flecken auf Nicolais Ottomane
hinterließen, aber das Eingesperrtsein machte mir nichts aus, denn es glich
meinem früheren Leben im Glockenturm. Ich merkte nicht, in welcher Gefahr ich
schwebte, während ich auf die ferne Stadt lauschte, auf die Mönche, die sich
unter mir im Kreuzgang unterhielten, oder auf die Steinmetze, die Steinblöcke
für die Wände der neuen Kirche bearbeiteten. Es gab auch einen geheimnisvollen
neuen Klang, den meine Ohren nicht kannten. Wie ein Hund, der dem Geruch von
Fleisch folgt, ging ich ans offene Fenster. Wenn es windstill war, blendete ich
jeden anderen Laut aus und versuchte, den neuen Klang zu erfassen, aber er war
zu zerbrechlich und nicht so greifbar wie die anderen. Hielt ich einen Teil davon
in der Hand, entglitt er mir und damit auch alle anderen Bestandteile. Die
Stränge dieses neuen Klangs verstärkten sich gegenseitig wie eine Anhäufung von
Mohnblumen auf einem Hügel, die man aus der Ferne sieht. Die einzelnen Blüten
sind nicht sichtbar, aber zusammen färben sie den Hügel leuchtend rot.
    Ich hörte ihn jeden Nachmittag.
Vielleicht war das der Gott, von dem Nicolai gesprochen hatte? Nicht Karl
Victors furchtbarer Gott, sondern ein Gott der Schönheit und der Freude? Jener
Gott, der eine Möglichkeit für mich finden würde, an diesem schönen und
vollkommenen Ort zu bleiben.
    Am Sonntagmorgen wurde der Klang
plötzlich lauter und kam auch nicht mehr durch die Luft, sondern schien aus
allen Richtungen zu strömen – er drang durch die Wände, flutete den Gang
hinunter, kam durch das Schlüsselloch. Gott nahte, und ich durfte Ihn nicht
verpassen. Und deshalb übertrat ich sechs Tage, nachdem wir in der Abtei
eingetroffen waren, Nicolais Gebot und verließ seine Zelle.

VIII.
    Ich hielt mein Ohr an das
Schlüsselloch, bis ich sicher war, dass der Gang leer war, dann öffnete ich die
Tür. Ich schloss die Augen und lauschte, ob ich Schritte oder den sägenden Atem
des Abtes hörte. Meine Beine zitterten, als ich meinen Fuß auf den glatten
Holzboden des großen Ganges setzte.
    Hier war der Klang lauter. Er setzte
sich aus menschlichen Stimmen zusammen, das wusste ich jetzt. Sie sangen. Ich
versuchte, sie zu zählen; einen Moment waren es zwei, dann acht und dann hörte
ich mindestens … zwölf? Dann wieder nur zwei. Und für einen Augenblick blieb
nur eine einzige Stimme übrig, und ich bezweifelte, dass ich je andere gehört
hatte.
    Ich stieg das breite Treppenhaus
hinunter. Verglichen mit Nicolais Zimmer waren diese neuen Räumlichkeiten
immens. Ich machte kein Geräusch, und in der Abtei gab es keine anderen
menschlichen Laute, nur diese Stimmen. Die Arbeiter hatten ihre Arbeit
niedergelegt. Keine Mönche wandelten im Kreuzgang. Ich hörte nur den Wind. Es
war, als wären alle Menschen auf der Welt verschwunden.
    Ich schlich mich in den Kreuzgang. Das
feuchte Gras war kalt unter meinen nackten Füßen. Hinter der Grube für die neue
Kirche erstreckte sich der leere Platz. Ich blieb stehen. Eine Stimme begann
von neuem, allein, und dann wiederholte eine andere Stimme die Phrase und dann
noch eine und noch eine, alle sangen sie fast dasselbe, aber nicht ganz: Sie
sangen schneller oder langsamer oder mit anderen Noten. Mir wurde schwindlig,
als ich versuchte, den Gesang zu ordnen. Sicher waren es Engel, die da sangen.
    Ich presste meine Augen so fest
zusammen, dass sie wehtaten. Rosa Licht tanzte in Wirbeln mit den magischen
Stimmen. Und plötzlich ergab das alles einen Sinn. Eine Erkenntnis dämmerte in
mir. Im Läuten meiner Mutter hatte ich diese Schönheit schon gehört – im
Aufblitzen zufälliger Harmonien. Und diese Männer und Jungen, die da sangen,
hatten etwas gelernt, was gewiss ein Zauberkunststück war. Sie konnten jenen
unendlichen und überwältigenden Ozean von Klang steuern und zu etwas Schönem
gestalten. Mir wurde klar, dass auch ich diesen Zauber beherrschen konnte.
Vielleicht tat ich es schon.
    Ich ging am Rand der Baustelle vorbei,
lief durch einen Gang aus Brettern, der über den Platz

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