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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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zu der provisorischen
Holzkirche führte, und folgte den Klängen bis zu einer hohen Eichentür, die ich
mit aller Kraft aufstemmte.
    Eigentlich hätte ich die einfache
Kirche sehen müssen, die mit Mönchen und Laien angefüllt war, die beiden
Gruppen getrennt durch eine hölzerne Absperrung. Ich hätte den Chor von Sankt
Gallen sehen müssen, der vor dem Altar sang. All das hätte mich so erschrecken
müssen, dass ich weggerannt wäre. Aber das Öffnen der Tür setzte eine Welle von
Klang frei, und für einen Augenblick nahm ich nichts anderes wahr als diese
Musik. Ich war ganz im Bann meiner Ohren.
    Die Augenblicke der Dissonanz
verursachten mir Schmerzen. Wenn sich die Stimmen zu Terzen zusammenfanden,
wärmten sie mir den Hals und den Rücken. Ich schloss die Augen und hörte die
Musik. Ich spürte die leichte Resonanz des Liedes in meinem Kiefer und in
meinen Schläfen. Ich spürte sie in meiner schmalen Brust, und als ich
ausatmete, seufzte ich und das leichte Klingen meiner Stimme vermischte sich
mit der Musik. Mein Seufzer war ein Funke. Meine Stimme wurde lebendig. Ich
stöhnte, als ich versuchte, die Noten zu finden, die das Klingen meines kleinen
Körpers mit dieser Schönheit in Einklang bringen würden.
    Ich kannte den Text nicht, wusste
nicht einmal, dass es Worte waren, die sie sangen, also brachte ich die Töne
hervor, die mir auf die Lippen kamen. Den einen Moment fühlte ich die Ekstase
der Harmonie, den nächsten dann lief mir ein kaltes Prickeln über den Rücken,
wenn meine Klänge mit ihrem Lied zusammenstießen. Ich sang wie ein kleiner
Hund, der mit den Jagdhunden rennt – hektisch, ekstatisch, töricht –, bis ich
plötzlich bemerkte, dass der Gesang aufgehört hatte und dass ich in eine
schockierte Stille hinein stöhnte.
    Eine Hand schlug mir so heftig auf den
Kopf, dass vor meinen Augen Sterne aufblitzten. Ich fiel auf die Knie. Die
große Tür öffnete sich, die Hand ergriff meinen Hals und hob mich in die Höhe,
ich wurde aus der Kirche hinausgeworfen und landete im Dreck.
    Ich rannte. Ich jagte die Treppe
hinauf. Jede Tür, an der ich vorbeisauste, sah genauso aus wie die davor, und
ich brauchte fünf Versuche, um die Tür zu finden, die ich gesucht hatte. Ich
versteckte mich im Schrank und zog eine von Nicolais schwarzen Wollkutten über
mich. Es wurde schrecklich heiß, und bald schwitzte ich und rang nach Luft.
Aber ich blieb dort, bis ich Schritte hörte und zwei Personen den Raum
betraten. Nicolai erkannte ich an seinem schweren Gang. Der andere – ich hörte
das Atmen. Der Blasebalg in einer Schmiede.
    Die Tür schlug laut zu.
    »Vater Abt …«, begann Nicolai.
    »Ich sollte Euch der Abtei verweisen«,
brüllte Abt Coelestin. »Ein Kind in der Zelle zu verstecken!«
    »Er hat kein Zuhause«, bettelte
Nicolai. Er flüsterte, als fürchtete er, belauscht zu werden. »Wenn Ihr ihn nur
als …«
    »Habt Ihr mich gehört?«, schrie der
Abt. »Ausschluss! Was würdet Ihr dann machen? Für Euer Essen singen?«
    »Vater Abt, bitte.«
    »Wo ist er?«
    Stille trat ein. Ganz, ganz langsam
drehte ich mich so, dass ich durch die Lücke zwischen den beiden Schranktüren
spähen konnte. So wie der Abt den großen Nicolai wütend von unten anfunkelte,
sah er beinahe wie ein wütendes Kind aus.
    Nicolai zuckte die schweren Schultern.
»Vielleicht ist er weggelaufen.«
    Der wütende Blick des Abtes heftete
sich starr auf Nicolai.
    »Abt, bitte. Bestrafen Sie nicht den
Jungen für das, was ich getan habe.« Nicolai legte eine Hand auf die Schulter
des Abtes.
    Ohne den Blick von ihm abzuwenden,
ergriff der Abt Nicolais Handgelenk und schob die Hand von seiner Schulter.
Nicolai verzog das Gesicht, als sich die Klauen des Abtes in sein Fleisch
gruben. Der Abt sprach langsam, artikulierte jedes Wort sorgfältig. »Ihr
scheint zu denken, dass es Barmherzigkeit so reichlich gibt wie Luft.« Er stieß
Nicolais Arm heftig zur Seite.
    Nicolai rieb sich das Handgelenk. »Ein
einziger Junge kann doch nicht schaden.«
    Der Abt schien ihn nicht zu hören.
    Nicolai legte die Handflächen
aneinander. »Abt«, sagte er. »Bitte, ich bitte Euch darum!«
    Dieses Gesicht! So groß und so
unschuldig. So freundlich. Es schien zu dem Abt zu sagen: Aber wir sind Brüder, Ihr und ich!
    »Ihr bittet mich darum?«, sagte der
Abt, erstaunt über die Anmaßung. Er sah sich in dem Raum um. »Worum bittet Ihr
mich? Ich habe Euch bereits alles gegeben, worum man bitten kann, Nicolai. Ich
habe Euch einen Raum gegeben, in

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