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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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dir die Zunge heraus und verfüttere sie
an …«
    »Halt!«
    Wir drehten uns um. Nicolai stand oben
an der Treppe. Der Kartoffelsack war verschwunden. Er hatte Tränen in den
Augen.
    »Das könnt Ihr nicht machen«, sagte
Nicolai.
    »Wisst Ihr, was Ihr da sagt?«, fragte
der Abt.
    »Abt, ich habe gelobt, dieses Kind zu
beschützen.«
    Einen Augenblick lang war der Abt
sprachlos. Ich hörte, wie ihm der Atem im Hals stockte. Ich fühlte seine
Klammerhand vor Wut zittern, und auch seine Stimme zitterte, als er schließlich
sprach. »Für Euch gibt es nur ein Gelübde, Bruder Nicolai, und das gilt dieser
Abtei. Damit Ihr mich genau versteht: Ihr habt eine Wahl. Ihr könnt zu Eurem
ersten und ewigen Gelübde zurückkehren, und ich bringe dieses Kind, wohin es
mir gefällt. Oder Ihr könnt Euer Gelübde brechen, und Ihr und dieses Kind verlasst
umgehend das Kloster. Ich bevorzuge die zweite Möglichkeit.«
    Nicolais Gesicht war so rot
angelaufen, als hätte er zu viel getrunken. »Vater, ich bitte um Vergebung, ich
wähle …«
    Seine Wahl wurde nie kundgetan, denn
in diesem Augenblick hörten wir eine vierte Person die Stufen hinaufstolpern.
»Gott sei gepriesen«, sagte diese neue Stimme. »Abt, Ihr habt ihn gefunden.«

IX.
    »Ulrich von Güttigen«,
keuchte der Mann mit der gelben Haut und hielt mir eine verschwitzte Hand hin.
»Ich bin der Regens Chori dieser Abtei.« Ich zuckte vor der Hand zurück, als
wollte auch sie mich die Treppen hinunterziehen. Den Mann erkannte ich: In der
Kirche hatte er vor den Sängern gestanden, mit denen zu singen ich versucht
hatte.
    »Ja, ich habe ihn gefunden«, sagte der
Abt. Er schob mich eine weitere Stufe hinunter, sodass ich zwischen den Männern
stand. »Er ist schon auf dem Weg nach Rorschach. Er wird uns nicht wieder
stören.«
    »Nein!«, rief der Chormeister. Er
ergriff meinen Arm.
    Die Finger des Abtes umschlossen
meinen Nacken noch fester. »Was soll das heißen?«, fragte er.
    Ulrich sah vom Abt zu Nicolai und
wieder zurück zum Abt. Ich versuchte meinen Arm wegzuziehen, aber der
Chormeister hatte einen festen Griff.
    »Es geht natürlich um den Chor.«
    »Den Chor?«
    »Ja.«
    In der Stille, die jetzt folgte, hörte
ich auf zu zappeln und sah mir diesen Ulrich von Güttigen genau an. Seine gelbe
Haut war straff gespannt und durchsichtig wie die Haut eines Hühnchens, das
kurz in kochendes Wasser getaucht wurde. Auch sein weißes Haar erinnerte an
abgesengte Federn: Nur noch kleine Büschel standen auf dem Kopf und hinter den
Ohren.
    Und doch verwunderte mich sein
Aussehen weniger als die Laute, die er von sich gab. Er rang nach Luft, aber
trotzdem war sein Atem ein bloßes Flüstern wie ein Lufthauch unter der Tür.
Sein Herz schlug zu leise, als dass ich es hätte hören können, und obwohl ich
mich sehr anstrengte, fand ich keine weiteren Kennzeichen, um ihn einzuordnen:
kein Reiben der Hände, keine zappelnden Füße, kein Knacken der Knie. Ich hörte
nichts.
    »Wir müssen ihn singen hören«, sagte
Ulrich. Er zog mich zu sich und kaute vor Eifer auf seiner Unterlippe herum.
    »Wir haben ihn singen gehört, und es
war sehr störend.«
    »Ein paar Noten, Abt. Ein kurzes
Aufblitzen von etwas, das vielleicht außergewöhnlich ist.«
    »Hört ihn an«, unterbrach Nicolai.
    Der Abt und Ulrich drehten sich zu dem
großen Mönch um, der immer noch oben an der Treppe stand. »Das geht Euch nichts
an«, sagte der Abt. Aber er wandte sich wieder dem Chormeister zu und murmelte:
»Gut, hören wir den Jungen an.«
    Alle vier stiegen wir die Treppe
hinab und liefen durch eine Reihe von Korridoren, die mir unbekannt waren.
Ulrich ließ meinen Arm nicht los, bis wir einen großen Raum mit Spiegeln an der
Seitenwand betraten. Eine kleine Bühne befand sich am anderen Ende des Raumes.
Im Zentrum stand ein Gerät mit drei Reihen von Tasten an der einen Seite. Ich
hielt es für einen Sarg und befürchtete, dass sie mich lebendig darin begraben
wollten. Ulrich stellte einen Stuhl neben diesen Kasten und hob mich darauf. Er
sah den erschrockenen Blick, mit dem ich die Holzkiste betrachtete, und fragte
so freundlich, wie es seine nervöse Stimme erlaubte: »Hast du denn noch nie ein
Cembalo gesehen?« Er drückte auf eine der Tasten und ein schönes, klares Läuten
füllte den Raum. »Diese Note kannst du singen, nicht wahr, mein Junge?«
    Während die drei Männer mich gebannt
beobachteten, fühlte sich der Stuhl an, als würde er gleich unter mir
zusammenbrechen. Ulrich leckte sich

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