Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
Vom Netzwerk:
Moses eine
Karte.«
    Wieder sah der Abt auf mich herab.
»Nein, Ihr habt recht. Er braucht eine Begleitung.« Seine Lippen schmatzten,
als hätte er eine saure Pastille im Mund. Er nickte. »Bruder Dominikus wird ihn
hinbringen.«
    Als wir an jenem Abend in Nicolais
Zelle saßen, teilte er Remus die Neuigkeit mit.
    »Was soll ich?« Der Wolf umklammerte
die beiden Hälften seines offenen Buches, als wollte er es auseinanderreißen.
Nicolai lief vor ihm auf und ab. Ich saß auf dem Bett.
    »Ihn sicher durch die Gefahren dieser
Welt geleiten«, sagte Nicolai. Mit den Händen bog er imaginäre Schlingpflanzen
zur Seite. Er streckte den Zeigefinger aus. »Zum Hause Duft.«
    »Warum ich?«
    »Du bist der Einzige, der tapfer genug
ist.«
    »Wofür hält Staudach mich? Für ein
Maultier?«
    Nicolai zwinkerte mir zu. »Ich glaube
nicht, dass er dich ganz so weit oben ansiedelt.«
    »Ich habe andere Dinge zu tun.« Remus
lehnte sich auf seinem Sessel zurück. Er drückte sein Buch an die Brust.
    Nicolai sah ihn skeptisch an. »Andere
Dinge?« Remus begegnete stumm seinem Blick. »Ach, Remus, tu es für Moses.«
    »Für Moses?« Remus runzelte
verächtlich die Stirn. »Was hat Moses denn davon?«
    Wir sahen beide auf Nicolai. Obwohl
ich mich danach sehnte, in jenes geheimnisvolle, großzügige Haus
zurückzukehren, hatte ich Angst. Auch ich hätte gerne gewusst, warum ich
eigentlich dorthin gehen sollte. Nicolai wedelte mit der Hand in Richtung
Fenster. »Er wird die Welt sehen.«
    »Die Welt befindet sich also zwischen
der Abtei und dem Hause Duft?«
    Nicolai blieb vor dem Fenster stehen
und spähte hinaus, als wollte er den Weg zu jenem Haus inspizieren. Er zuckte
die Achseln. »Zumindest ein Teil.«
    »Ein sehr kleiner Teil.«
    Nicolai fuchtelte in der Luft herum,
um den verwirrenden Nebel zu vertreiben, den Remus verbreitete. »Remus, er muss
doch irgendwo anfangen. Du willst ja wohl nicht, dass er so ein Mönch wird wie
du, oder?«
    Nicolai war in jenen Jahren für mich
das, was einem Vater am nächsten kam, und seine Worte überraschten mich. Es war
das erste Mal, dass ich eine andere Zukunft in Betracht zog als das Leben eines
Mönches in der Abtei. Wie Remus. Wie Nicolai.
    Remus sah mich fest an. »Was kümmert
mich, was aus ihm wird?« Aber sobald er das gesagt hatte, sah er auf den Boden
und versuchte vergeblich zu verbergen, dass er sich schämte, weil er wusste,
dass mein Leben auch ihn etwas anging.
    Nicolai lächelte. »Moses«, sagte er.
»Kannst du es sehen? Remus hat Angst.«
    Remus schnaubte.
    »In dem Haus gibt es nämlich Frauen.«
Nicolai zwinkerte. »Mach dir keine Sorgen. Ich rede mit ihm. Er muss seine
Angst überwinden.«
    Und richtig, am nächsten
Donnerstag, als Nicolai mich aus der Probe geholt und mein Gesicht geschrubbt
und mein Haar gekämmt hatte, stand da Remus mit Hut und Umhang und trug einen
Ranzen voller Bücher, als würden wir viele Tage lang reisen und als würde ein
Mangel an Büchern einem Mangel an Luft gleichkommen. Am ersten Tag hielt er
eine Karte in der Hand, die er an jeder Straßenecke drehte und wendete, als
müsste er einen Kode entschlüsseln. »Diese verdammten Straßen«, murmelte er.
»Sie scheinen im Kreis zu verlaufen. Warum kann man sie nicht genauso anlegen
wie auf der Karte?« Ich folgte ihm geduldig mit einem Schritt Abstand und
merkte mir gewissenhaft alle Geräusche. In den folgenden Wochen schlossen wir
einen einfachen Pakt. Er hielt sich ein Buch vor die Augen und lief voran. Wenn
ich das Messer des Schlachters hörte, schob ich ihn nach rechts, beim Hammer
des Schmieds nach links. Sobald ich die Verkäufer auf dem Markt schreien hörte,
führte ich ihn den sanften Hügel hinauf.
    Wir gelangten über denselben Korridor
in das Haus Duft, der mich bei meinem ersten Besuch so verwirrt hatte. Stell
dir ein Haus vor, dessen Wände täglich geleert und neu gestrichen werden,
dessen Bilder neu aufgehängt, dessen Treppen und Eingänge nach Belieben
erneuert oder entfernt werden. So war es für mich in diesem Haus der ständig
wechselnden Geräusche. An einer Stelle der Wand, wo ich an einem Tag eine Hand
hörte, die auf einen Tisch schlug, hörte ich in der nächsten Woche klappernde
Töpfe, und an einer anderen Stelle, wo ich einmal das sanfte Flüstern eines
Dienstmädchens gehört hatte, hörte ich beim nächsten Mal die heisere Stimme von
Karoline Duft.
    Jede Woche wurde ich in einen Salon
geführt, in dem Amalia immer an der Seite ihres Vaters an einem

Weitere Kostenlose Bücher