Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
unvollendet gewesen, aber jetzt
war ich in etwas Schönes und Gutes und Heiliges verwandelt worden.
Wie sehr ich mich irrte.
XVII.
Als er kam, um mich zu
holen, war es im Kreuzgang still geworden. Er hielt mich in den Armen, und
einen Augenblick lang glaubte ich, er wollte mich nur an sich drücken. Ich
mochte seine Berührung nicht, also stellte ich mich schlafend. Ich hörte nur
seinen leichten Atem (selbst jetzt, wo mein Ohr an seine Schulter gepresst war,
konnte ich sein Herz nicht hören). Ich spürte, dass sein Blick auf mir lag.
Dann fiel etwas Warmes und Feuchtes auf mein Gesicht. Ich hörte ein Schluchzen.
Mit plötzlicher Entschlossenheit hob
er mich hoch. Er trug mich aus meinem Zimmer und die Treppe hinunter, die auf
jedem Absatz vom schwachen Mondlicht beleuchtet wurde, das durch die großen
Fenster des Klosters fiel. Ich lag in seinen Armen, als schliefe ich, und hörte
das Schnarchen, das bedeutete, dass wir an Nicolais Zelle vorbeikamen. Auf dem
Treppenabsatz im ersten Stock blieb er stehen, und dieses Zögern war so
untypisch für ihn, dass ich die Augen öffnete und in sein Gesicht blickte. In
dem trüben Mondschein wirkte sein blasses Gesicht blutleer. In seinen Augen
schwammen Tränen.
»Ulrich«, sagte ich. »Lasst mich
gehen.«
»Ich kann nicht«, flüsterte er.
Ich zappelte in seiner Umarmung.
»Lasst mich gehen«, wiederholte ich, aber er schüttelte den Kopf.
»Deine Stimme«, flüsterte er. »Wir
müssen deine Stimme erhalten, wie sie ist.«
Ich musste an Dufts Eidechsen und
Bärenköpfe denken. Hatte er die Absicht, meine Stimme herauszuschneiden und in
einem Glas zu konservieren? Wollte er sie an die Wand hängen? Ich versuchte,
mich zu befreien, aber er hielt mich fest.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Es
tut mir leid.«
Sein gequältes Gesicht kam mir so
nahe, dass ich glaubte, er würde mich küssen. Ich schrie.
Aber im selben Augenblick streckte er
die Hand aus und presste sie mir fest auf Mund und Nase. Ich konnte weder atmen
noch schreien, als er schnell die Treppe hinunterstieg und durch die leeren
Korridore eilte, vorbei an einem betrunkenen Mönch, der ausgestreckt auf dem
Boden lag.
Gerade als ich begann, das Bewusstsein
zu verlieren, nahm Ulrich seine Hand weg. Ich schnappte nach Luft. Er
flüsterte: »Sei jetzt still. In diesem Teil der Abtei kann dich niemand hören.
Vergeude nicht deine Kraft.« Ich zappelte und versuchte zu entkommen, aber er
hielt mich noch fester, als wäre ich ein Baby, das er eher ersticken würde, als
es wegzugeben.
Er brachte mich in den Probenraum, der
selbst zu dieser späten Stunde von Lampen und Kerzen hell erleuchtet war. Das
Cembalo stand einsam in der Mitte wie ein Altar. Es war mit einem weißen
Leinentuch bedeckt. Doktor Rapucci, dessen Gesicht von seinem frostigen Lächeln
gezeichnet war, stand neben dem Instrument. Er goss Wein in ein Kelchglas und
hielt es vor sich wie einen Abendmahlskelch.
Rapucci machte zwei Schritte auf uns
zu, während ich noch einmal versuchte, Ulrichs verzweifelter Umklammerung zu
entkommen. Ich wollte ihn treten, aber meine Füße trafen nur die Luft.
»Hab keine Angst«, sagte der Arzt. Er
sprach mit italienischem Akzent. »Ich tue dir nicht weh.«
Er kam näher, aber als ich wieder
zappelte, blieb er stehen. Er schüttelte den Kopf und lächelte, als wäre es
dumm von mir, ihm zu misstrauen. Seine dünnen Augenbrauen hoben sich in
vorgetäuschter Freundlichkeit. »Weißt du, wo Stuttgart ist, Moses?«
Auf seinen weißen Handrücken traten
dicke Adern hervor, die dieselbe Farbe wie der Wein hatten.
»Es ist nicht weit von hier – nur ein
paar Tagesreisen. Ich hoffe, du wirst mich eines Tages dort besuchen. Es ist
schön hier in der Abtei, aber nicht zu vergleichen mit Stuttgart. Hast du schon
einmal einen Herzog gesehen? Herzog Karl Eugen ist mein Herr. Wenn ich ihm von
deiner Stimme erzähle, wird er dich im Schloss schlafen lassen. Du willst doch
gerne in einem Schloss schlafen?«
Das wollte ich nicht, aber ich sagte
nichts.
»Der Herzog liebt schöne Musik mehr
als jeder andere in Europa, Moses. Mehr als selbst euer Abt. Deshalb hat er
mich aus dem fernen Italien nach Stuttgart geholt. Ich bin Arzt, ein Arzt für
Musik.«
Jetzt trat er vor. Ich zappelte, aber
Ulrichs Griff war wie aus Eisen.
»Du hast eine sehr schöne Stimme,
Moses. Eine der schönsten, die ich je gehört habe. Ulrich hat dich sehr gut
ausgebildet. Aber ich kann dich noch besser machen. Würdest du gerne noch
besser
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