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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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nicht entdecken und sie mich wahrscheinlich auch nicht.
    Als der fünfte Satz zum Ende kam,
hielt Ulrich inne. Eine plötzliche, harsche Stille erfüllte die Kirche. Seine
erhobenen Hände hielten die Musik zurück, und einen Augenblick lang waren wir
alle gezwungen, die Leere zu reflektieren und die Sehnsucht zu fühlen, die
Ulrichs Fluch war – sein Verlangen nach der soeben verklungenen Schönheit, die
er nicht mehr fassen konnte.
    Dann war ich an der Reihe; der
sechste Satz war mein Solo. Und ich sang. Mit dem vollkommenen Gehör, das meine
Mutter mir geschenkt hatte, mit den kleinen Lungen, die Ulrichs Hände das Atmen
gelehrt hatten, mit einem Körper, der mit Gesang klingen konnte. Ich sang für
Nicolai, für Amalia – und ich sang für meine tote Mutter und für Frau Duft.
Meine Stimme füllte diese vollkommene Kirche, als sie von Note zu Note
flatterte. Wenn ich pausierte, um zu atmen, hörte ich, wie mit mir tausend
Atemzüge geholt wurden. Dann, als ich wieder begann, hielten alle für mich die
Luft an. Meine höchsten Noten schienen mich vom Boden zu heben. Als ich einen
verstohlenen Blick zur Seite warf, sah ich, dass Bugatti die Augen geschlossen
hatte und ein Lächeln auf dem Gesicht trug. Mein kleiner Körper hallte als Echo
aus der Rotunde und den tiefsten Winkeln des Kirchenschiffs wider, und deshalb
fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben riesengroß, so riesengroß wie
Staudachs Kirche.
    Dann war es vorbei – nicht einmal
hundert Sekunden. Keiner bewegte sich. Alle Mönche und alle Sänger hefteten
ihren Blick auf mich, aber ich wusste, dass sie nicht auf diesen unbedeutenden
Jungen starrten, sondern auf die Stimme in seinem Inneren, und sie sehnten sich
danach, diese Stimme noch einmal zu hören. Durch das Gitter sah ich, wie sich
in der Menge der Andächtigen plötzlich ein Kopf über alle anderen erhob, und
einen winzigen Moment lang erblickte ich Amalia, die begeistert auf der
Kirchenbank stand, bis ihre Tante sie nach unten zerrte.
    Dann sah ich auf Ulrich. Sein Gesicht
war kreidebleich, die Augen weit aufgerissen. Er hatte zu atmen aufgehört, als
wäre ihm ein Messer in die Brust gestochen worden.
    Am Abend gab es wieder ein
Festmahl, das bis tief in die Nacht dauerte. Ich kroch von Tisch zu Tisch und
stopfte mir Speisen in Mund und Taschen, die auch Königen und Prinzen das
Wasser im Mund hätten zusammenlaufen lassen. An diesem Tag verzehrte ich
bestimmt mein Körpergewicht in Lammbraten, und ich weiß nicht, wo es
verschwand. Denn immer noch wollte mein kleiner Körper nicht wachsen.
    Die Weinkeller der Abtei wurden für
die Mönche geöffnet, sowohl für die heimischen als auch für die Besucher. Um
Mitternacht saß ich an meinem Dachfenster und lauschte auf Dutzende von
betrunkenen Mönchen unten im Kreuzgang, wie sie die vollendete und vollkommene
Abtei feierten. An einem Fenster, das wie eine Bühne beleuchtet war, stand
Nicolai und sang französische Balladen für eine Menge, die bei jedem seiner
Reime jubelte. Seine Zuhörer tanzten im Kreis, bis sie in einem betrunkenen
Haufen zusammenbrachen. Jenseits der Klostergebäude lag der Abteiplatz in
völliger Stille, denn die Laien waren schon lange ohne Essen oder Wein nach
Hause geschickt worden. In einem entlegenen Winkel des Kreuzgangs hörte ich
Ulrichs flüsternde Stimme, die flehentlich auf den Arzt aus Stuttgart
einredete, und das nasale Brummen, mit dem dieser antwortete. Ihnen gegenüber
murmelte Remus vor der weißen Fassade der neuen Kirche vor sich hin und schien
eine Diskussion mit einem Franzosen zu führen, aber als ich in den Schatten
spähte, konnte ich niemanden neben ihm entdecken, nur ein Buch, das er sich vor
die Nase hielt. Aus anderen Schatten hörte ich verführerisches Flüstern. In
einer Nacht wie dieser, in der so viele Brüder zu Besuch waren, die sich nie
wiedersehen würden, in der so viel Wein das Gewissen betäubte, trachteten viele
Mönche danach, den Nektar dieser Welt zu kosten.
    Ich hörte, wie lallende Stimmen
hektisch beteten. Ich hörte einen Mann, der in einem piepsigen Flüsterton mein
Solo sang. Ich hörte ein Fass Wein, das durch den Kreuzgang gerollt wurde. Ich
hörte Kelche, die an die Mauern geschmettert wurden.
    Ich erinnere mich ganz genau an meine
Gedanken: Was für ein Glück ich habe! Ich möchte Mönch werden.
    Zum ersten Mal, seit ich in das
Kloster gekommen war, hatte ich das Gefühl, dazuzugehören. Wie die Steine von
Staudachs Kirche war ich einst unbedeutend und

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