Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Dann stellte ich mich nackt vor meinen Spiegel.
Ich sang die ersten drei Noten des
Sopransolos vom Tag zuvor. Wenn auch schwach und unsicher, so war es doch meine
Stimme. Sie war mir nicht genommen worden. Mit einem erstickten Schluchzen brach
mein Gesang ab.
Irgendwie gelang es mir, ins Bett
zurückzukriechen. Ich schlief ein.
Ich hörte Pochen und Schreie im
Schlaf. Jemand jagte mich über die Korridore der Abtei; aber alle Türen waren
verschlossen, und ich konnte mich nirgends verstecken. Dann hörte ich ein
Krachen, etwas splitterte, ich wachte auf und sah, dass meine Tür zerbrochen
war und nach innen fiel. Nicolai stolperte herein. Hinter ihm kam Remus, der
besorgt die Augen zusammenkniff, und hinter Remus hielt Doktor Rapucci eine
Lampe vor sein fahles, fragendes Gesicht. Der Arzt schob sich an meinen
Freunden vorbei. Ich zuckte zusammen, als er eine kalte Hand auf meine Stirn
legte und dann mein Auge mit zwei Fingern öffnete und inspizierte.
»Es wird ihm bald bessergehen«, sagte
er zu Nicolai, der dastand, als wollte er mich sofort in den Arm nehmen.
Rapucci schob ihn zurück. »Ihr müsst ihn in Ruhe lassen. Er hat bloß etwas
Fieber.«
Meine Augenlider waren so schwer, dass
ich sie zufallen ließ.
»Aber er ist nicht aufgewacht«,
beklagte sich Nicolai mit zitternder Stimme. »Ich dachte, er wäre …«
»Er ist jung und stark. Lasst ihn
schlafen«, antwortete Doktor Rapucci streng. »Ich passe auf ihn auf.«
»Nein, ich passe auf ihn auf«, sagte
Nicolai.
»Ich bin Arzt.«
Ich öffnete die Augen. Der Raum schien
zu schwanken. Remus stand schweigend in der zerbrochenen Türöffnung und achtete
nicht auf das Buch, das er im Arm trug. Mit misstrauischem Gesichtsausdruck sah
er zu, wie die Männer sich um mich stritten. Ich wollte Nicolai – sogar Remus –
bitten, mich nicht mit diesem Arzt allein zu lassen, aber in meiner
Benommenheit konnte ich die Worte nicht herausbringen. Ich hatte zu viel Angst
und sah, wie meine Beschützer vorsichtig über die Holzsplitter zurücktraten,
wobei ihre Gesichter mich anflehten, sie zurückzurufen.
Als wir alleine waren, beugte sich
Doktor Rapucci nahe zu mir heran. Er lächelte, als er sah, dass ich wach war.
Er legte einen Finger auf seine dünnen Lippen. »Du darfst niemandem erzählen,
was letzte Nacht geschehen ist«, sagte er. »Wenn du es tust, wirst du nicht
hierbleiben dürfen. Du wirst die Abtei verlassen müssen und allein sein.
Vertraue niemandem außer deinem Freund Ulrich.«
Ich verstand diese Warnung nicht
vollständig, aber trotzdem wusste ich instinktiv, dass er recht hatte.
»Weißt du, was ich getan habe, Moses?«
Ich reagierte nicht. Im trüben Lampenlicht sah ich, dass sich die violetten
Adern nicht nur auf seiner Hand abzeichneten, sondern auch sein Gesicht
durchzogen.
»Ich habe dich zum Musico gemacht.«
Ich, ein Musico? Diese Hand, die sich
in mir gedreht und gegraben hatte, hatte mich wie Bugatti gemacht? Ein Musico ist ein Mann, hatte Nicolai gesagt, der kein Mann ist. Er ist zum
Engel gemacht worden.
»Moses!« Doktor Rapucci sprach immer
noch zu mir. Das Fieber machte es mir schwer, mich auf seine Worte zu
konzentrieren. »In den nächsten Wochen wirst du ein paar Veränderungen an
deinem Körper bemerken«, sagte er. »Das darf dich nicht beunruhigen.«
Rapucci richtete sich auf und blies
die Lampe aus. Schwaches Licht drang vom Flur herein.
»Eines Tages«, sagte Rapucci aus dem
Dunkel, »wirst du eine der größten Stimmen Europas haben. Vergiss mich nicht,
Moses. Vergiss nicht, wer dich zu dem gemacht hat, was du bist.«
Ich schloss die Augen.
Und ich vergaß es wirklich niemals.
Viele Jahre später, als meine Karriere mich schließlich doch noch in Karl
Eugens Stadt führte, verbarg ich einen Dolch in meinem Umhang und sagte dem
Impresario, ich würde gerne Rapucci kennenlernen, Stuttgarts berühmten »Doktor
der Musik«. Aber der Mann errötete nur und schüttelte den Kopf. »Bitte, mein
Herr«, sagte er, »wir sprechen nicht über ihn.« Schließlich füllte ich einen
älteren Bühnenarbeiter mit Wein ab, bis er mir erzählte, was geschehen war:
Rapucci war nach meiner Kastration tatsächlich nach Stuttgart zurückgekehrt,
aber nach zwei weiteren Jahren an Karl Eugens Hof, in denen er Jungen
kastrierte, um dem Herzog die einzige Musici-Schule nördlich der Alpen zu
erschaffen, wurde Rapucci gehängt, weil er sich an einer Herzogin vergriffen
hatte.
II.
Mit den Schmerzen und dem
Fieber verschwanden auch meine
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