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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Entschuldigung
vorbringen.
    Amalia starrte Remus bewundernd an.
    Plötzlich kam Bewegung in Duft. Jetzt
erst schien er mich zu sehen. »Komm nächste Woche wieder«, sagte er schwach.
»Dann wird es ihr bessergehen. Ohne Zweifel.«
    Ich nickte.
    Der Mann sah mich ernst an, als wären
wir die einzigen Personen im Raum. »Moses, wir brauchen einfach mehr Zeit.«
    Remus legte eine Hand auf meine
Schulter. Wir begannen unseren Rückzug zur Tür.
    »Voltaire hatte die Pocken«, sagte
Duft plötzlich. Er stand auf, kam mir mit langsamen Schritten nach und streckte
die Hand aus. »Er ist beinahe gestorben. Weißt du, was er getan hat? Er trank
sechzig Liter Limonade. Das hat ihn geheilt.« Duft sah an die Decke und rieb sich
die Lippen. Ich fürchtete schon, dass er weinen würde. Seine Stimme wurde noch
schwächer und brach immer wieder. »Ich habe sie das auch machen lassen. Aber
sie hat keine Pocken, und es hilft nur, wenn man Pocken hat. Wenn sie nur
welche hätte! Dann wüssten wir wenigstens, was wir dagegen tun könnten. Aber
genau das ist das Problem. Verstehst du? Für jede Krankheit gibt es ein
passendes Heilmittel. Nur sind die Krankheiten und die Heilmittel völlig
durcheinander.« Er brachte mit den Händen die Luft vor seiner Brust in
Bewegung. »Unendlich viele Krankheiten. Unendlich viele Heilmittel. Völlig durcheinander. Selbst
wenn wir alle Aristoteles wären, würde es ewig dauern.« Er endete seine Rede so
nahe bei mir, dass seine Schuhe meine Füße fast berührten und ich seine Zehen
knirschen hörte. Ich nickte ihm zu.
    »Warum tut Gott so etwas«, flüsterte
er. »Warum? Warum stellt er uns ein Rätsel, das so schwer zu lösen ist?«
    Ich wünschte, Nicolai wäre da; er
hätte eine Antwort gewusst. Er verlor die Schönheit der Welt nie aus dem Blick,
gleichgültig, wie schwer verständlich Gottes großes Rätsel war. Aber Nicolai
war nicht da, und stattdessen legte Remus eine Hand auf Dufts Arm, als wollte
er sagen: Ja, Ihr habt recht. Es ist nicht gerecht. Dann zog Remus mich weg und wir betraten den Korridor.
Ich sah Dufts unbewegliche Silhouette auf der Schwelle stehen, als wollte er
dort warten, bis ich zurückkam.
    Amalia war nicht mehr das kleine
Mädchen, das in den dunklen Gängen meine Hand gehalten hatte. Sie war größer
geworden und man konnte in ihren Gesichtszügen die zukünftige Frau erahnen.
Aber zu mir war sie so freundlich wie immer, denn trotz der Gartenfeste und
Mittagessen mit den besten anderen katholischen Mädchen von Sankt Gallen war
ich der einzige wirkliche Freund, den sie in jenen Jahren hatte. Immer noch
trödelten wir an jedem Donnerstag, an dem die Gesundheit ihrer Mutter einen
Besuch erlaubte, in den Gängen herum. Eines Tages sagte sie traurig zu mir:
»Moses, du hast so ein Glück, dass du kein Mädchen bist. Ich hasse Mädchen.
Jedes einzelne, das ich je getroffen habe.« Sie biss sich auf die Lippe und zog
an einem losen Faden an meinem Ärmel. »Ich will mich überhaupt nicht mit ihnen
treffen, aber Karoline zwingt mich dazu. Gestern habe ich den ganzen langen Weg
nach Rorschach zurückgelegt, nur damit sie mich beleidigen konnten.« Sie schob
die Unterlippe vor und sprach mit Piepsstimme: »Du
tust mir ja sooo leid, Amalia. Es muss schrecklich sein zu hinken. Wie hältst
du das nur aus? Ich an deiner Stelle würde mich den ganzen Tag in meinem Zimmer
verstecken.« Ihre Wangen erröteten, sie
fühlte sich noch bei der Erinnerung gedemütigt. »Die Jungen sind schuld daran.
Nicht dass es zu wenige gäbe, aber die Mädchen tun so, als kämen in der ganzen
Welt auf tausend von uns nur drei akzeptable Ehekandidaten. Wir sind noch viel
zu jung, um zu heiraten, aber trotzdem denken sie an nichts anderes.«
    Wir machten ein paar Schritte, und
geistesabwesend rieb Amalia ihren Arm an meinem.
    Ich sah zu ihr auf. Ich wagte zu
sprechen: »Wirst du heiraten?«
    Amalia lachte über mein ernstes
Gesicht. »Natürlich, du Dummkopf. Glaubst du etwa, ich will ewig bei dieser
Hexe bleiben? Natürlich werde ich heiraten.« Sie nickte und sah verträumt den
Gang hinunter. »Er wird reich sein. Und dumm. Er wird nur auf seinem Pferd
durch die Gegend reiten und jagen oder was erwachsene Männer so machen«, sagte
sie. »Aber er wird alles tun, was ich will.«
    Sie träumte davon, ihrem Gefängnis
zu entfliehen. Eines Tages zog sie ein Stück Papier heraus. Sie entfaltete es
und zeigte mir eine peinlich genaue Zeichnung der Abtei. »Ich habe sie
abgemalt«, sagte sie stolz. »Jedes

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