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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Kopf wählte
ich Teile aus Dufays Missa Sancti Antonii, ein Stück, das geschrieben wurde, als die Musik noch
rein und klar war, eher wie ein seichter Bergbach im Vergleich zu den tiefen
musikalischen Ozeanen unserer Zeit. Frau Duft hatte sie oft gehört, und ich
wusste, dass sie das Gloria liebte.
    Ich sang. Duft blickte unverwandt auf
die schlafende Gestalt seiner Frau. Amalia bedeckte ihr Gesicht mit den Händen
und ließ schließlich den Tränen freien Lauf, die sich während all dieser Jahre
ihrer stoischen Besuche am Krankenbett angesammelt hatten. Ich sang lauter. Die
Lampe über meinem Kopf begann zu klingen. Dufts Körper gab keinen Laut von
sich. Auch Frau Duft reagierte nicht auf meine Stimme. Aber Amalia weinte
stärker, ihr Körper öffnete sich für meine Stimme und klang leise wie die Lampe
über uns – ein Laut, den sie nicht hören konnte, von dem ich aber hoffte, dass
sie ihn spürte wie eine warme Umarmung.
    Sie legte ihren Kopf auf die Bettkante
ihrer Mutter und schluchzte.
    Plötzlich flatterten Frau Dufts
Augenlider. Sie sah mich an, und wie am ersten Tag, an dem ich für sie gesungen
hatte, sah ich den Abglanz meiner Mutter in diesen Augen.
    Sie streckte eine zitternde, knochige
Hand aus und berührte den schluchzenden Kopf ihrer Tochter. Amalia schreckte
hoch, setzte sich auf und versuchte, die Tränen zu unterdrücken, aber es waren
so viele, und sie hatten so lange darauf gewartet, geweint zu werden. Jetzt konnten
sie nicht mehr zurückgehalten werden. Die Hand ihrer Mutter war nur noch Haut
und Knochen, vorsichtig ergriff Amalia sie und hielt sie sich weinend an die
nasse Wange. Frau Duft hatte nicht die Kraft, ihre Tochter zu umarmen, selbst
ihre Augenlider waren zu schwer für sie geworden.
    Ich sang weiter. Meine Stimme war
stark, stark genug, um Amalia zu halten, während sie weinte, stark genug, um
mit dem Tod zu kämpfen. Ich sang lauter. Meine Arme schienen gewichtslos zu
sein, meine Füße schienen vom Boden abzuheben, sodass ich wie eine Glocke war,
die vom Himmel herabhing. Meine Stimme klang nicht nur in der Lampe, sondern
jetzt auch lauter in Amalia, und sie summte in den Bodendielen, an der Decke
und in den Fensterscheiben hinter dem Bett.
    Die Wände des Hauses nahmen meine
Stimme auf und hallten von ihr wider. Jede der Abermillionen von kleinen
Muscheln füllte sich mit meiner Stimme und gab sie in einer Kette von Gesang
weiter, bis das ganze Haus sang. Und dann reichte meine Stimme noch weiter: in
die Erde unter dem Haus und hinaus in den Himmel, und bald wusste ich, dass ich
die ganze Welt beben ließ, genau wie meine Mutter mit ihren Glocken die Welt
hatte läuten lassen. Das Beben war still – außer mir konnte es niemand hören –,
aber alle im Haushalt der Dufts konnten es als Wärme spüren, die sie zum
Lächeln brachte.
    Ich sang noch lauter, und meine Stimme
schüttelte all den Schmutz und Ruß von uns ab, der uns niederdrückte. Sie
vertrieb Traurigkeit und Krankheit. Sie vertrieb Angst und Sorge. Sie erfüllte
die Schwachen mit Mut. Die Kranken erhoben sich aus ihren Betten. Meine Stimme
vertrieb die Verzweiflung aus ihren Augen. Sie vertrieb die Erschöpfung aus
ihren Körpern, die Krankheit aus ihren Lungen. Wir bekamen zurück, was wir
verloren hatten.

III.
    Frau Duft starb nicht an
diesem Tag, aber es war das letzte Mal, dass sie meine Stimme hörte. Eine Woche
später sangen wir die Trauermusik bei ihrer Beerdigung.
    Ich wurde nie wieder in das Haus Duft
eingeladen. Meine Freundschaft mit Amalia war vorbei – oder so schien es mir in
den Wochen, die der Beerdigung folgten. Ich sah sie jedoch häufig, denn jetzt
hatte sich der Einfluss ihrer Tante im Haus vergrößert und Amalia wurde fast
täglich zur Messe gebracht. Wenn ich mit den anderen Chorknaben in der Nähe des
Hochaltars saß, hatte ich keine Möglichkeit, mich dem Gitter zu nähern, welches
das Schiff in zwei Teile schnitt; aber wenn ich im Chor mitsang, schlich ich mich
nach der Messe zu der Pforte im Gitter, die nahe an der Kirchenwand lag. Die
Pforte war immer verschlossen und wurde nie benutzt. Ich konnte mich
verstecken, wenn ich mich an die Steinsäule drückte, an der ihre Angeln hingen.
Durch das prunkvolle Gitterwerk der Pforte konnte ich sie hinter ihrer Tante in
der Menge der Kirchgänger entdecken, die die Kirche verließen.
    Monatelang begnügte ich mich damit,
sie zwischen zwei goldenen Blättern zu erspähen, aber dann konnte ich eines
Sonntags nicht widerstehen und sang leise

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