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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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verblüfft unten stand und in die
Geräusche um mich herum vertieft war. Sie drehte sich um und schnauzte mich von
oben an. »Mach den Mund zu. Du siehst wie ein Idiot aus, wie du da rumstehst.
Hast du denn noch nie einen solchen Reichtum gesehen?«
    Ich vermute, sie meinte die dicken
Teppiche, die Eichenmöbel und die zweitklassigen Porträts der Dufts, die an der
Wand hingen. Aber für einen Chorknaben aus der Abtei Sankt Gallen waren das
bloße Kleinigkeiten.
    Ich folgte ihr die sich windenden
Korridore entlang, bis der gehorsame Peter in Sicht kam, der zusammengesunken
auf seinem Posten saß.
    »Moses!« Er stand auf wie eine Wache,
die einen General grüßt, dann merkte er, dass er vergessen hatte, meine Ankunft
zu vermerken, sah auf die Uhr und schrieb meinen Namen auf, bevor er wieder Haltung
annahm. Er reichte mir eine Holzkohlemaske.
    »Also hat die Wissenschaft noch nicht
aufgegeben!«, sagte er. »Ich wusste, dass du wiederkommen würdest. Und gerade
zur rechten Zeit. Der Arzt sagt, wir können nur noch beten, aber hier im Hause
Duft beten wir nicht einfach nur.«
    »Das tun wir ganz gewiss!«, schnappte
Karoline.
    »Ich meine«, sagte der treue
Schreiber, als würde er die hässliche Birne gerade erst bemerken, »die
Wissenschaft ist unsere Art zu beten.«
    »Wenn es mehr Gebete und weniger
Wissenschaft in diesem Haus gäbe«, sagte Karoline, »hätten wir nicht all diese
Probleme.«
    »So ist es, gnädige Frau«, sagte
Peter. Er schien sich sehr unwohl zu fühlen, und er kritzelte am Rand seines
Blattes herum, als müsse er eine sehr wichtige Addition durchführen.
    »Los, geh hinein«, sagte Karoline zu
mir. »Warte nicht auf mich; ich werde meine Gesundheit nämlich nicht aufs Spiel
setzen.«
    Peter warf mir einen letzten
hoffnungsvollen Blick zu, als wolle er die Wissenschaft anfeuern. Oder die
Musik. Oder beide.
    Amalia saß auf der einen Seite des
Betts ihrer Mutter, Herr Duft auf der anderen. Seine Augen waren voller Tränen,
aber er wischte sie fort, als er bei meinem Eintreten aufstand. Er kam schnell
zu mir und zauste mein Haar. Danach ließ er seine Hand auf meinem Kopf liegen,
als hätte er sie dort vergessen. So standen wir eine Minute lang da, während er
mit glasigen Augen zur Tür in meinem Rücken sah. Amalia saß auf ihrem Stuhl und
sah mich ebenfalls nicht an.
    »Wir haben versagt, Moses«, sagte Duft
schließlich. »Wir haben es versucht, aber wir haben versagt. Wir haben nicht
genügend Chancen erhalten, das ist das Problem. Es ist einfach ungerecht. Die
Krankheit bekommt alle Chancen, die sie will, und wir bekommen so wenige. Wäre
es andersherum, würden wir auf die eine oder andere Art auf die Lösung stoßen.
Ich danke dir jedoch für deinen Versuch. Du hast ausgezeichnete Arbeit
geleistet.«
    Amalia sah auf die unbewegliche
Gestalt ihrer Mutter im Bett. Der Atem der Kranken konnte nicht einmal die
Bettdecke heben und senken.
    Duft fuhr fort. »Vorher hat sie nach
dir gefragt, aber das ist jetzt vorbei. Der Arzt sagt, es hat keinen Sinn mehr
zu hoffen. Wir haben dich umsonst hergeholt. Du kannst jetzt …« Seine Worte
brachen plötzlich ab. Er legte seine Hand auf den Mund, und ich erkannte, dass
meine Entlassung die weiße Fahne seiner Kapitulation war – vielleicht zum
ersten Mal seit sieben Jahren trieb ihn die Hoffnung nicht mehr zu sinnlosem
Tun an.
    Ich lauschte auf Frau Dufts Atemzüge:
leise und kurz. Dann sah ich wieder auf meine Freundin. Meine lebhafte Amalia
sah hohl und zerbrechlich aus, und mir wurde klar, dass die Einsamkeit des
Mädchens vollkommen sein würde, wenn diese Frau starb. Sie würde niemanden mehr
haben, der ihre Hand hielt und ihr übers Haar strich, und sie würde auch keinen
Freund mehr haben, mit dem sie große Reden schwingen und träumen konnte, denn
meine Stellung im Hause Duft würde zusammen mit ihrer Mutter enden.
    Auch ich begann zu weinen: um die
Mutter und die Tochter, aber auch um mich selbst. Duft, der ebenso wie ich
Tränen in den Augen hatte, nickte mir wissend zu, als wäre er endlich bereit,
die Tatsache zu akzeptieren, dass es Traurigkeit in der Welt gab. Er führte
mich zur Tür.
    »Sing bitte«, sagte Amalia mechanisch,
ohne aufzusehen.
    »Liebes«, sagte Duft, »es hat keinen
Sinn. Sie ist nicht wach.«
    »Bitte«, sagte sie. Ihre Stimme war
brüchig, aber sie weinte nicht. Ich hatte noch nie Tränen auf ihrem Gesicht
gesehen.
    Und deshalb begann ich gegen alle
Wissenschaft zu singen. Aus der kleinen Musikbibliothek in meinem

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