Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Hoden. Nach einer Woche waren sie nur noch harte
Kerne. Ein paar Tage später wachte ich auf und griff gewohnheitsmäßig unter die
Bettdecke – und dann setzte ich mich schnell auf. Ich war leer.
Es ist ein kleiner Kunstgriff, den
noch heute sowohl Chirurgen als auch Barbiere in italienischen Landen jedes
Jahr an Tausenden von Jungen ausführen. Doktor Rapucci hatte die beiden Äste
meiner Arteria spermatica interna durchtrennt. Abgeschnitten von dem, was sie zum Leben
brauchten, starben meine Hoden und wurden von meinem eigenen Blut aufgezehrt.
Ich bemerkte keine andere Veränderung, weder körperlich noch geistig. Meine
Stimme war so schön und strahlend, wie sie bei der Einweihung der Kirche
gewesen war, und deshalb bemerkte ich beim Singen nur das plötzliche Fehlen
jener zwei winzigen Glocken, die zwischen meinen Beinen geläutet hatten.
Ich fühlte mich wie zuvor. Mir wuchsen
keine Engelsflügel. Ich wurde nicht groß und breit wie der Musico Bugatti. Und
doch wusste ich, dass Rapuccis Operation nicht misslungen war – Ulrichs
mitleidige Blicke verrieten es mir. Ihr meint doch
nicht etwa einen Kastraten? Einen Halbmann?, hatte Staudach gesagt, als Ulrich einen Musico in seiner Kirche singen
lassen wollte. Ich konnte nicht ergründen, was ich war oder was ich werden
würde, aber ich wusste: Es war etwas, das ich verbergen musste. Ich badete nur
mitten in der Nacht, und stets lag ein Handtuch griffbereit. Ich schloss meine
Tür ab, wenn ich mich umzog. Ich fragte Nicolai nie nach dem Sinn jener Organe,
die ich verloren hatte. Ich hütete mein Geheimnis und hoffte, dass ich diese
schreckliche Nacht und ihre Folgen einfach vergessen würde. Mehrere Jahre lang
hatte es auch den Anschein, dass mir das möglich wäre.
Ungefähr zwei Jahre nach der
Fertigstellung der Kirche verschlechterte sich Frau Dufts Zustand merklich. Ich
hatte den Eindruck, dass ihre Knochen wuchsen. Ihre Haut spannte sich immer
mehr, und ihr Kinn und die Augenhöhlen traten immer stärker hervor. Es schien,
als könne sie nur mit der Hilfe einer unsichtbaren Hand atmen, deren Aufgabe es
war, die Luft aus ihr herauszuquetschen. Ihre Stimme war ein bloßes Flüstern,
und die Wärme, die sie immer verströmt hatte, kostete sie jetzt schmerzhafte
Anstrengung.
Der energische Herr Duft wurde
missmutig. Amalia, die diese kranke Frau mehr liebte, als die meisten Mädchen
Mütter lieben, die tanzen und den ganzen Tag Unsinn plappern können, begegnete
der Besorgnis ihres Vaters mit Charme und kümmerte sich um den Mann. »Aber
warum hat Alexander alles getan, was Aristoteles wollte?«, fragte sie zum
Beispiel. Oder: »Moses sagt, er würde gerne die Köpfe sehen«, und dann stieß
sie mich an, bis ich zustimmend nickte, obgleich diese Gefäße mir so viel Angst
einjagten. Herr Duft belebte sich nur, wenn er von dem Vermögen sprach, das er
mit solcher Leichtigkeit verdiente, oder wenn er seine Pläne erläuterte, nach
Osten zu expandieren; zu diesem Zweck korrespondierte er mit einem Wiener
Textilmagnaten, mit dem er die Welt erobern wollte – zumindest jenen Teil, der
Stoffe benötigte.
Eines Abends, als Remus und ich im
Salon auftauchten, blickte Duft aus dem Fenster und sein Gesicht sah grau aus
(was außergewöhnlich war für einen Mann, dessen Normalfarbe rohem Rindfleisch
glich). Amalia starrte mit leerem Blick in ein Buch, machte keinerlei Versuch,
ihn aufzumuntern, und begrüßte uns nicht einmal.
Plötzlich fegte Karoline in den Raum,
als hätte sie hinter der Tür auf unser Eintreffen gelauert. »Nicht heute
Abend!«, sagte sie schnell, als spräche sie zu zwei ungezogenen Kindern. »Der
Dame des Hauses geht es sehr schlecht. Der Arzt befürchtet, dass sie stirbt .« Die schwere Frau
sprang von einem Fuß auf den anderen wie eine Tänzerin: plump, aber
triumphierend. An ihren Augen erkannte ich, dass sie bereits von der neuen Frau
Duft träumte: kultivierter und fruchtbarer als die letzte. Sie wollte uns mit
ein paar Winken aus dem Handgelenk zur Tür hinausscheuchen. Ich machte ein paar
Schritte zurück, stieß aber gegen Remus. Normalerweise stürmte er aus dem Haus
wie ein Hund, den man aus dem Käfig lässt, aber als ich aufsah, erblickte ich
eine unverkennbare Wut in seinem Gesicht.
»Falsche Schlange«, flüsterte er laut
genug, dass alle es hörten.
»Wie bitte?«, fragte Karoline Duft.
Aber Remus hatte den Blick abgewandt und betrachtete eingehend die leere Wand.
Die strenge Frau sah auf mich herab, als sollte ich eine
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