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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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plante. In dieser unglücklichen Welt, in der wir
alle unvollständig sind, hatte ich die Gabe verloren, uns wieder zu einem
Ganzen zu machen.
    Und plötzlich war da meine andere
Hälfte: Sie war schön und hinkte durch den Regen.
    Ein ehrenhafter Teil meiner Seele –
dem ich seither Nahrung und Licht zu entziehen versucht habe – meldete sich in
diesem Augenblick, als ich mich vor ihr im Schatten versteckte. Er sagte mir,
ich solle in mein Zimmer in der Abtei zurückkehren und dort allen Trost suchen,
dessen ich bedurfte. Dieser Teil meiner Seele wiederholte die Worte des Abtes
für mich. Du bist ein Unfall der Natur, ein Ergebnis
der Sünde, nicht der Gnade. Diese Stimme
in mir sagte: Belaste nicht andere mit deiner
Tragödie. Lass sie im Regen zurück. Teile dein Unglück nicht – du wirst es nie
zurückbekommen.
    Aber ein anderer Teil – der
leidenschaftliche Teil, der liebte und begehrte – sagte: Sie! Sie! Sie! Er vergaß den
Regen, die Kälte. Da sie so nah war, wurde die Welt plötzlich warm.
    Und deshalb versteckte ich mich wie
ein Dieb vor ihren Ohren, als sie meinen Namen rief und mich mit den Augen
suchte. Meine Füße machten kein Geräusch, als sie über die nassen Kopfsteine
glitten. Ich rief sie nicht. Ich zog die Fahne meiner Täuschung aus meinem
Habit, wo ich sie vor dem Regen geschützt an meiner Brust verborgen hatte.
    Es war ein Streifen weiche, rote
Seide, den ich dem Abt aus seinen privaten Vorräten gestohlen hatte und der
eines Tages Teil des feinsten Messgewandes hätte werden sollen. Ich hielt ihn
in beiden Händen, als ich hinter ihr herschlich – wobei ich meine längeren
Schritte den ihren anpasste –, bis ich so nahe war, dass ich die Regentropfen
auf ihre Schulter prasseln hörte. Wenn uns jemand aus einem Fenster beobachtet
hätte, hätte er geglaubt, ich wollte sie erwürgen.
    Ich hob den Seidenstreifen in die Höhe
und zog ihn im selben Moment zu, als er vor ihren Augen lag.
    Sie schrie natürlich. Ich jedoch hatte
Angst, sie würde sich die Augenbinde abreißen, mein Gesicht sehen und an meinen
weichen Zügen meine ganze Schande erkennen. Deshalb fasste ich den
Seidenstreifen noch fester und zog sie in der Hoffnung zu mir heran, dass die
Berührung meines Körpers – der nass und kalt war und nach Schaf roch – sie
beruhigen würde.
    Vergeblich. Sie schrie noch einmal.
    »Amalia«, sagte ich. »Ich bin es,
Moses. Hab keine Angst.« Das war eine bessere Strategie. Sie schrie nicht, aber
ihre Hände zerrten immer noch an der Seide, die schmerzhaft in ihre Augen
geschnitten haben muss.
    »Ich bin es, Moses«, sagte ich noch
einmal.
    Sie hörte auf, an der Augenbinde zu
zerren, und ich lockerte meinen Griff.
    »Moses?«, fragte sie.
    »Ja«, sagte ich. »Ich bin es.«
    »Was machst du da?«
    Ich entschied mich für das Schweigen.
Ein Licht flackerte in dem Haus, vor dem wir standen. Die Bewohner waren von
den Schreien geweckt worden.
    »Moses, lass mich bitte los.«
    »Du darfst die Augenbinde nicht
abnehmen«, platzte es aus mir heraus.
    »Warum?«
    »Du darfst mich nicht ansehen.« Das
Licht in dem Haus wurde heller, aber dann schrumpfte es auf eine einzige Kerze
in einem der Fenster zusammen.
    »Warum darf ich dich nicht ansehen?«
    »Schnell«, sagte ich. »Da ist jemand.«
Ein Fenster knarrte beim Öffnen. Ich band die Augenbinde auf ihrem Hinterkopf
zu. Zu meiner Erleichterung riss sie sie nicht ab. Ich nahm ihre Hand und
führte sie die Straße hinunter. Beim Gehen streckte sie die andere Hand aus, um
Hindernissen auszuweichen. Wir bogen in die engeren Gassen von Ulrichs Viertel
ein.
    »Moses«, sagte sie. »Das ist albern.«
    Albern war es nicht, aber wie sollte
ich sie davon überzeugen?
    Sie drückte meine Hand, genau wie das
kleine Mädchen vor Jahren meine Hand gedrückt hatte, als es mich durch eine
unbekannte Welt führte. »Es muss doch einen Grund geben.«
    Warum brauchte sie einen Grund? Ich
hätte es ohne Widerspruch zugelassen, wenn sie mir für immer die Augen
verbunden hätte. Ich konnte nicht sagen: Wenn du mein Gesicht siehst, erkennst
du an meinen Zügen, dass ich nicht die genau zu dir passende zweite Hälfte bin,
wie es Gott eigentlich beabsichtigt hat. Dann siehst du, dass ich zerstört bin,
und wirst mich nicht lieben. Ich konnte nicht sagen: Der Mann, den du vor
deinem inneren Auge siehst, dieser vollkommene Mann – das ist mein wahres Ich.
    Und deshalb sagte ich: »Wenn du mich
ansiehst, verschwinde ich.« Es war keine Lüge.
    »Aber das ist

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