Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
meiner Unterlippe liegen blieb. Ihre Handfläche verharrte auf
meinem Gesicht.
»Gute Nacht, Orpheus«, flüsterte sie.
Ich konnte meine Stimme nicht finden,
um ihr zu antworten.
Sie drehte sich zum Tor um, und ich
wusste, dass sie die Augen geöffnet hatte, denn ihre Schritte waren sicher. Sie
sah nicht zurück, und obwohl ich sie in diesem Augenblick hätte zu mir rufen
können, ließ ich sie gehen.
XIV.
Du darfst nicht glauben,
dass ich so feige war, die Augenbinde aufzuheben, den Dreck herauszuschütteln
und zu hoffen, dass ich sie dazu bringen würde, sie wieder zu tragen. Ich ließ
sie auf der Straße liegen, wo die Pferde darauf herumtrampeln konnten.
Ich ertrug die Chorgebete der Woche
und wusste, dass meine Täuschung zu Ende war. Sie würde erfahren, dass ich ein
Kastrat war – selbst, wenn sie es nicht an meinen weichen Gesichtszügen
erkannte, würde ich es ihr sagen. Obwohl ich eine Vision bekämpfen musste, dass
sie so grausam lachen würde wie Feder und die anderen Chorknaben, wusste ich in
meinem Herzen, dass sie nicht gehässig reagieren würde.
Vielleicht würde sie darauf bestehen,
dass es nichts ausmachte. Dass sie mich genauso liebte wie vorher. Vielleicht
würde sie das sogar glauben. Aber ich wusste es besser. Orpheus war ein Mann,
und ich war keiner. Wenn ich sie noch einmal in dieses Dachzimmer brachte,
würden wir beide erröten. Wir würden auf die Farbflecken auf dem Tisch starren
und nicht wissen, was wir sagen sollten. Wenn sich unsere Blicke trafen, würden
wir schüchtern lächeln. Würde sie mich umarmen wie eine Schwester?
Die Wehmut peinigte mich, als ich im
Chorstuhl saß und den Gesang um mich herum gar nicht bemerkte. Ich hörte nur
die Klänge meiner Erinnerung, die ich am meisten liebte und die zu hören ich
bald kein Recht mehr haben würde. Und doch, als die Woche sich dahinschleppte,
bemerkte ich auch eine Freude, die in mir wuchs. Bald würde jemand mein
Geheimnis teilen.
Als am letzten Tag des Wartens die
Sonne endlich untergegangen war, entzündete ich eine Kerze und stellte mich vor
den zerbrochenen Spiegel an meiner Wand, von dem noch etliche große Splitter
übrig waren. Ich hatte gebadet und allen Schmutz abgeschrubbt. Seit ich das
letzte Mal mein Spiegelbild betrachtet hatte, waren die dunklen Ringe um meine
Augen verschwunden. Meine Wangen waren voller geworden und hatten eine gesunde
Farbe bekommen.
Später umkreiste ich zweimal das Haus
Duft und wartete darauf, dass die Lichter gelöscht würden. Ich versuchte, die
Geräusche aus dem Inneren des Hauses auszuloten, aber sie waren immer noch
trügerisch. Ich hörte Küchengeklapper von dort, wo die Schlafzimmer lagen, und
ein angeregtes Gespräch aus einem Zimmer, dessen Fenster dunkel waren.
Kurz nachdem die Glocke der Abtei
Mitternacht geschlagen hatte, wurde das letzte Licht gelöscht. Ich versteckte
mich beim Gartentor und lauschte auf die knirschenden Angeln. Nichts. Um eins
wurde ich ungeduldig und beschloss nachzusehen, ob sie eine Nachricht hinterlassen
hatte. Ich zog den Schlüssel heraus, den sie mir gegeben hatte, öffnete das Tor
und kroch zu dem Fenster auf der Gartenseite.
Wie enttäuscht ich war, als ich ein
Stück Papier auf dem Sims fand! Ich nahm es und drehte es ins Mondlicht. Ich
musste es mir fast an die Nase halten, um lesen zu können:
Mein liebster Moses,
wie froh ich am Morgen sein werde, wenn der Sims
leer ist, denn dann weiß ich, dass Du gekommen bist. Ich möchte Dich so gerne
ansehen! Ich kann an nichts anderes denken. Aber heute Nacht kann es nicht
sein. Irgendetwas geht vor. Karoline ist eine hinterhältige Hexe – sie ist nach
Bruggen aufgebrochen, aber dann habe ich sie im Keller gehört. Ich wage nicht
zu kommen. Aber nächste Woche wird sie wieder fort sein, und in der Nacht komme
ich und betrachte meinen Orpheus.
A.
Ich drückte die Nachricht an meine
Brust, als könnte ihre Stimme mich durch die Tinte liebkosen. Noch eine ganze
Woche! Wie sollte ich meine Zweifel so lange niederkämpfen?
Da hörte ich, wie sich eine Tür zum
Garten öffnete.
Sie war doch noch gekommen! Beinahe
hätte ich meine Deckung verlassen, aber ich wollte sie nicht erschrecken, nicht
in dieser Nacht, in der so viel auf dem Spiel stand.
»Amalia«, flüsterte ich.
Ein Keuchen antwortete mir, und ich
erkannte sofort, dass ich einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Dieser
schwere Atem war nicht Amalias.
»Habt Ihr das gehört!«, sagte Karoline
Duft. »Ich habe es doch gesagt! Jemand
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