Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
ihre Hand
weg.
Sie begann zu schluchzen, und feuchte
purpurrote Flecke erblühten auf der Seide. Ich hörte ihrer Trauer zu: das
Schluchzen, das leise Keuchen, die Feuchtigkeit in Nase und Mund. Einen
Augenblick wünschte ich sogar, sie würde die Augenbinde abziehen und den
schwachen Halbmann sehen, der ich war. Ich lag da und ihre Schluchzer stachen
auf mich ein wie hundert kleine Dolche.
»Du bist schwach, Moses«, sagte sie.
Sie drehte mir den Rücken zu, und ich wollte mein Ohr in die Höhlung ihres
Rückgrats pressen, aber ich spürte, dass mir das jetzt verboten war. Mit ihren
bloßen Füßen ertastete sie den Boden. Sie stand auf, nackt, und ihre Hände
fuchtelten in der Luft herum. Sie stolperte vorwärts und stieß einen der Stühle
um, die am Tisch des Malers standen. Sie klammerte sich an die Tischecke und
hangelte sich darum herum, wobei sich die Muskeln in ihrem Rücken und ihrem
Gesäß spannten, als sie das Gleichgewicht zu halten versuchte. Sie hätte nur
die Augenbinde herunterziehen müssen und alles wäre so einfach gewesen. Aber
sie wollte mir die Entscheidung nicht abnehmen.
Sie drehte sich zu mir um. »Du liebst
mich«, sagte sie. »Und das macht dich noch schwächer. Ich weiß nicht, wovor du
Angst hast, Moses, aber niemand sollte solche Angst vor irgendetwas haben.« Sie
suchte wieder nach einer freien Stelle für ihre Füße, fand aber keine und fiel
beinahe hin. »Weißt du, warum ich dich immer berühren muss?«, fragte sie,
sobald sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte. »Wenn ich dich nämlich loslasse,
sehe ich nur den kleinen Jungen, der mir nicht einmal bis zur Schulter gereicht
hat. Vielleicht bin ich in einen Geist verliebt.« Ich sah, wie sie sich mühte,
und wünschte mir so heftig wie nie, stark zu sein, ein richtiger Mann. Aber ich
war vor Kummer wie gelähmt. Und vor Angst. Sie stolperte und fiel auf die Knie
und kroch über den Boden, bis sie an die Wand kam.
»Sag etwas«, schrie sie. Als sie
wieder aufstand, streiften ihre Hände die Leinwand, auf der die nackte Frau des
Malers zu sehen war. Zum ersten Mal bemerkte ich, wie ähnlich sie sich waren –
sie hätten Schwestern sein können oder derselbe Engel, der zu zwei
verschiedenen Männern geschickt worden war.
»Sag etwas!«, schrie sie noch einmal.
Es tut mir leid, sagte ich tonlos, aber ich konnte es nicht aussprechen.
»Sag etwas!« Der Befehl löste sich in
Schluchzen auf. Die weichen Innenseiten ihrer nackten Schenkel zitterten, als
sie weinte, und plötzlich wurde sie von der Ferse bis zum Hals starr. Sie riss
das Bild von der Wand. Sie warf es zum Bett. Der Rahmen splitterte, als er vor
mir auf den Boden schlug, und ich sprang auf. Amalia lehnte sich an die Wand und
weinte laut schluchzend. Sie glitt die Wand hinunter, bis sie auf dem Boden saß
und ihre Knie umklammerte. Noch immer riss sie sich die Augenbinde nicht ab,
genauso wenig wie sie je die Bandage um meinen Leib abgewickelt hatte.
Ich brachte ihr ihre Kleider und half
ihr, während sie sich schweigend anzog. Als ich sie an diesem Morgen nach Hause
führte, hörte ich, dass etwas in ihr zerbrochen war. Ich wäre so gerne in unser
Dachzimmer zurückgekehrt, wo ich mein Ohr an jeden Zoll ihres Fleisches gelegt
hätte, um es zu heilen.
Als wir beim Hause Duft angelangt
waren, blieb Amalia vor dem Tor stehen. Mir gefiel diese Änderung unserer
Gewohnheiten nicht, und sanft schob ich sie weiter, aber sie widersetzte sich.
Mehrere Sekunden lang standen wir bewegungslos da. Ein Hahn krähte in einem
nahen Hof. Ich sah nervös auf den oberen Teil des Hauses, weil ich glaubte,
eine Bewegung in einem Fenster wahrgenommen zu haben.
»Jemand könnte uns sehen«, flüsterte
ich. »Der Himmel wird schon grau.«
Abrupt drehte sie sich zu mir um. »Nie
wieder«, sagte sie. »Ich tue das nie wieder.« Sie hob die Hand und schob ihren
Daumen unter die Augenbinde, zog sie hoch. Jeder Muskel in meinem Körper
spannte sich an.
Sie zog sich die Binde von den Augen.
Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte nicht atmen.
Ihre Augen waren geschlossen.
Sie streckte die Hand mit der
Augenbinde aus und ließ sie fallen. Ich war zu langsam: Sie flatterte zu Boden.
Noch immer öffnete sie die Augen
nicht. »Moses, ich werde sie nicht wieder tragen«, sagte sie. »Nie wieder.
Nächste Woche sehe ich dich an, mit offenen Augen. Wenn du kommst.«
Ihre Hand tastete sich über meinen
Arm, an meiner Schulter und meinem Hals entlang, bis sie meine Wange fand und
ihr Daumen auf
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