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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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dumm.«
    Sie biss mir in den Unterarm.
    Mein Leben außerhalb dieses Raumes
stand still. Staudach hatte es nicht eilig und drängte nicht darauf, dass ich
mein Gelübde ablegte, sodass ich ein vernachlässigter Novize blieb, der gerade
nur an so vielen Gottesdiensten teilnahm, dass es nicht auffiel. Wenn sich mein
Leben in der Abtei verändern sollte, musste ich handeln, aber ich strebte keine
Veränderung an. Ich war bereit, in meiner Zelle alt zu werden.
    Aber von Amalia, der einzigen Tochter
des reichsten Mannes, den es in Sankt Gallen je gegeben hatte, wurde Handeln
erwartet. Bewerber um ihre Hand waren eine ständige Plage. So geschickt fand
sie Fehler um Fehler an ihnen, dass sogar Karoline eine Weile davon überzeugt
war, dass Amalia ein untrügliches Gespür für den idealen Gatten hätte.
    »Karoline hat ihre Suche einfach
intensiviert«, erzählte Amalia mir eines Donnerstagnachts. »Wie viel Papier sie
schon verschwendet hat, um an ihre ›Kandidaten‹ zu schreiben! ›Noch ein Jahr‹,
sagt sie, ›höchstens. Wenn du dich nicht entscheiden kannst, muss dein Vater es
tun!‹ Vater hat nur geschnaubt. ›Geduld, Karoline‹, hat er gesagt. ›Wir finden
schon noch den Richtigen; den gibt es immer.‹«
    Über all das lachten wir, weil wir
wussten, dass der Richtige niemals auftauchen würde.
    Aber dann:
    »Heirate mich«, sagte sie eines
Nachts.
    Plötzlich konnte ich nicht atmen. Ich
bewegte mich nicht. Ich sagte nichts. Ich hatte das Gefühl, dass jeder Laut meine
Täuschung und meine Schande enthüllen würde.
    »Moses?«, fragte sie.
    »Ja?«
    »Ich habe dich gebeten, mich zu
heiraten.«
    »Das kann ich nicht.«
    »Warum nicht?«, fragte sie. Sie
lachte. »Weil du Mönch bist? Moses, du kennst nicht einmal die Bibel. Du
verbringst deine Nächte mit einer Frau. Du …«
    »Das ist es nicht, Amalia.«
    »Warum denn dann?«
    Ich dankte Gott für die Augenbinde,
denn sie konnte nicht sehen, dass ich vor lauter Angst, alles zu verlieren,
zitterte.
    »Ich kann es nicht.«
    »Aber warum nicht?«, sagte sie, jetzt
nicht mehr leichthin.
    »Bitte frag mich nicht.«
    Sie muss meine Aufrichtigkeit gehört
haben, denn sie drängte mich nicht.
    »Verstehe«, sagte sie. »Gut, ich
brauche dich nicht zu heiraten. Wir rennen weg. Ich habe die Tage satt, an
denen ich von dir getrennt bin. Wir könnten nach Zürich gehen. Oder nach
Stuttgart. Du könntest singen, Orpheus.«
    »Bitte, nenn mich nicht so.«
    »Warum nicht? Für mich bist du
Orpheus. Mein Orpheus.«
    Ich schüttelte den Kopf, obwohl sie es
nicht sehen konnte. Dieser Name war ein Symbol dafür, wie schrecklich ich sie
getäuscht hatte – und wie sehr ich mich selbst getäuscht hatte. Denn ich
wünschte mir genau dasselbe wie sie: wegzulaufen, Staudach und Ulrich und den
Gefängnissen unseres Alltags zu entkommen. Mit ihr eins zu sein als Mann und
Frau. Ich wünschte es mir genauso so heftig wie sie, vielleicht noch heftiger.
    »Bitte mich nicht darum, wegzulaufen«,
sagte ich. »Es geht nicht.«
    »Es macht mir nichts aus, arm zu
sein«, sagte sie.
    »Bitte mich nie wieder darum«, sagte
ich mit einem Nachdruck, den sie nicht kannte. Ich schluckte meine Tränen
hinunter.
    Mehrere Minuten lang schwiegen wir
beide. Dann begann sie mit der Hand meine Brust, meinen Hals, mein Kinn zu
befühlen. Sie berührte meine Lippen, und dann befeuchtete sie ihren Finger an
meiner Zunge.
    »Ich möchte dich sehen, Moses«, sagte
sie. »Ich möchte dich mit meinen Augen sehen.«
    »Das darfst du nicht«, sagte ich.
»Solange du mich liebst, darfst du das nicht.«

XIII.
    Bald begann der Gedanke an
die Zukunft auf uns zu lasten wie Stapel von Büchern auf einem Cembalo. Wenn
ich sang, musste ich die Luft aus meinen Lungen zwingen, um meine Stimme in
meinen Knien und Ellenbogen klingen zu hören. Meine Hände und Füße waren so
fest zusammengeballt, dass sie selbst an eine Glocke gepresst nicht geschwungen
hätten. Ich grub mein Ohr in Amalias Brust, um ihr Herz zu hören.
    Nur auf dem Höhepunkt unserer Ekstase
schien sich diese Last zu heben, und deshalb wurde unser Bedürfnis nach dem
Klang und der Berührung des anderen zu einem verzweifelten Hunger. Wenn wir
getrennt waren, sehnte ich mich nach ihr und war gleichzeitig von einem so
tiefen Selbsthass erfüllt, dass ich beschloss, ihr beim nächsten Mal die
Augenbinde abzunehmen. Aber sobald wir unser Refugium betraten, legten sich
ihre Hände auf meinen Körper und drückten ihn, als würde sie nach einer Öffnung
in

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