Der Katalysator
Nebelschwaden aus dem Gitter empor.
Ganz anders als Texas. Und im Augenblick war er froh, an Texas zu denken, denn Trialin kam ihm inzwischen zu den Ohren heraus. Er mußte aufhören, an Trialin zu denken, oder er würde in dieser Nacht nicht schlafen können. Und schlafen mußte er, denn sonst würde Kussman ihn morgen auffressen.
Und so denkt er an seine Kindheit in einer kleinen texanischen Stadt, an die Zeit, bevor er nach Osten zum College ging.
Er denkt an das Haus in der Deafsmith Street.
Er sieht Billy in diesem Haus. Fünfzehnhundert Meilen von hier, vor vielen Jahren. Die Szenen drängen heran und ebben zurück, sie formen sich, verschwinden und formen sich neu. Während er fährt, hört er Laute, Stimmen. Gestalten kristallisieren sich.
Er betrachtet das Haus seiner Erinnerung in ernstem Schweigen. Er erhascht kurze Blicke auf die Fenster seines kleinen Zimmers an der Rückseite und auf Billys größeres an der Südseite.
In diesem Zimmer hatte Billy gelebt, und dort war er gestorben. Er war an Novarella gestorben, während der Großen Epidemie. Novarella, eine Krankheit, die in den Anfangstagen der DNS-Rekombination außer Kontrolle geraten war, ähnelte der Lungenentzündung, nur daß hierbei nicht nur die Lunge versagte, sondern auch das Hämoglobin des Kranken zerstört wurde, so daß das Opfer schließlich erstickte. Alle Altersstufen waren gleichermaßen gefährdet. Sogar im Mutterleib verursachte die Krankheit fötale Mißbildungen. Eine Heilung gab es nicht. Als Billy im Sterben lag, hatte Mammi synchron mit ihm geatmet, als wolle sie ihm so eine Art empathischer Wiederbelebung angedeihen lassen. Aber nicht einmal Mammi hatte seinen Tod verhindern können.
Das Eßzimmer lag gegenüber. Er und Billy hatten dort immer Schach gespielt, an dem großen Eßtisch.
Und dort in der Garage hatte der alte Vier-Zylinder-Malibu gestanden. Weit hinten konnte er den Schuppen erkennen, in dem Billy ihm die Anfangsgründe der Chemie beigebracht hatte.
Billy. Die Abkürzung für William Jennings Bryan Blandford. Eine eigenartige Abkürzung für eine so weitgefächerte Persönlichkeit. Es war, als wollte man Goethe „Jack“ oder da Vinci „Lennie“ nennen.
Was für ein Mensch war Billy? Ein jugendlicher Michelangelo oder ein Francis Bacon oder Praxiteles oder Omar Khayyam – ehe sie etwas vollbracht hatten, dessentwegen man sich über Jahrhunderte hinweg an sie erinnern würde.
In diesem Schuppen hinter dem Haus hatte Billy sein Labor gehabt. Hier hatte er Paul das Schießpulver erklärt.
„In der Geschichte geht es oft darum, clever zu sein. Cortez und die Eroberung von Mexiko zum Beispiel. Als er seine Schiffe in Vera Cruz verbrannte, schnitt er sich damit von jedem Nachschub ab. Als er sein Schießpulver verbraucht hatte, war Schluß. Aber es war sein einziger Vorteil gegenüber den Azteken gewesen. Er brauchte eine Menge Schießpulver, oder er war ein toter Mann. Also machte er es selbst.“ Billy wies auf drei kleine Häufchen auf einem Blatt Papier. „Holzkohle, Kaliumnitrat und Schwefel. Genau abgewogen: fünfzehn, fünfundsiebzig und zehn Teile. Holzkohle war natürlich kein Problem. Die machten sie aus Holz. Aber das Nitrat?“
Paul runzelte die Stirn. „Weiß ich nicht.“
„Aus Höhlen. Fledermaus-Guano. Reich an Stickstoff. Es war damals wohlbekannt, daß sich in den feuchten Kellern und Höhlen in Europa KNO3-Ablagerungen bildeten – sie drangen in der Nähe von Sickergruben und Misthaufen aus dem Boden. Im Grunde die gleiche Herkunft. Das Königshaus hatte sogar die Salpeter-Schürfrechte in französischen Kellern. Einmal im Jahr machten die königlichen Kratzerkolonnen
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