Der katholische Bulle: Roman (German Edition)
Sekunden dehnten sich zu einer Minute.
»Ich weiß, was manche Leute sagen: Das sei eine irische Tradition. Ein ironischer Seitenhieb auf die Hungersnot. Ich finde daran nichts Ironisches. Sie vielleicht, Sergeant?«
Ich war vollkommen verwirrt. »Sir?«
»In Indien haben sich die Jin zu Tode gehungert, um Reinheit im nächsten Leben zu erlangen. Der Philosoph Atticus hat sich in Rom zu Tode gehungert, weil er krank geworden war und ein schnelleres Ende herbeiführen wollte. In Irland wurde ein solches Handeln noch nie als ehrenhaft angesehen. Ich weiß überhaupt nicht, wie diese so genannte Tradition in unser Land eindringen konnte.«
Darauf wusste ich keine Antwort. Offenkundig warf er den Hungerstreikenden vor, bei Lucy derart große Schuldgefühle hervorgerufen zu haben, dass sie sich selbst umgebracht hatte.
»Mr O’Neill, wenn wir herausfinden könnten, wo sie die letzten sechs Monate gewesen ist, würde uns das sehr dabei helfen, die Puzzleteile …«
»Wir wissen es nicht!«, fauchte Mr O’Neill. »Ich wünschte, wir hätten es gewusst.«
»Vielleicht weiß einer von Lucys Bekannten etwas?«, fragte ich.
»Wir haben alle immer und immer wieder danach gefragt!«, sagte Mr O’Neill und schlug mit der Faust in die flache Hand, um seine Worte zu unterstreichen.
»Wir möchten trotzdem gern mit ihnen reden«, beharrte ich.
Mrs O’Neill beruhigte ihren Mann, und die beiden nannten uns ein halbes Dutzend Namen, alles Personen, die das CID – also Matty und Crabbie – bereits befragt hatten.
Trotzdem fuhren wir zurück aufs Revier und telefonierten. Keiner hatte nach ihrem Verschwinden etwas von Lucy gehört, keiner wusste etwas von Freunden oder gar einer Schwangerschaft. Die Freunde waren Katholiken, wir waren die Polizei … Eine Mauer des Schweigens.
»Und was jetzt?«, fragte Matty.
Ich sah auf die Uhr. »Schätze, wir werden mal unseren neuen Freund Freddie Scavanni besuchen.«
Wir fuhren über die M5 nach Belfast. Ausgebrannte Busse. Ein zerstörter Saracen. Ein brennender Postwagen. Soldaten im Gänsemarsch. Den Land Rover stellten wir am RUC-Revier Queen’s Street ab.
Wegen der Brandbomben, Sprengsätze und Bombendrohungen waren die Straßen in die Innenstadt hinein gesperrt worden. Im Herzen Belfasts waren keine Autos erlaubt, und alle Kauflustigen und Zivilisten wurden an einem Dutzend hastig errichteter Kontrollpunkte durchsucht. Uniformierte Zivilkontrollbeamte klopften einen ab, sahen in die Taschen und winkten einen an Spürhunden vorbei. Hatte man den Kontrollpunkt hinter sich gebracht, konnte man sich in der Gegend um City Hall frei bewegen.
Der innere Bereich wurde zudem von Polizei und Armee bewacht, so dass die Quadratmeile der Belfaster Innenstadt eine der sichersten Einkaufszonen der Welt war. Bombenleger konnten nicht hinein, Räuber, Vergewaltiger und Ladendiebe nicht hinaus. Dennoch waren die Kontrollpunkte ein ziemliches Ärgernis, und manchmal dauerte es eine Viertelstunde, bis man hindurch war.
Natürlich konnten Kriminalbeamte in Zivil einfach ihre Ausweise vorzeigen und sich vordrängeln. Das brachte uns ein paar »verfluchte Schweine« und »SS RUC« ein.
Die Zivilkontrollbeamten waren vorwiegend Frauen, meist sogar recht attraktive junge Frauen – es brachte also nicht nur Vorteile, die Kontrolle umgehen zu können. Der Grund, warum sie allgemein als Zivilkontrollbeamte bezeichnet wurden, lag darin, dass man sie so von den Handlangern des britischen Imperialismus unterscheiden wollte: Polizei, Armee und Gefängniswärter. Es bestand die Hoffnung, dass die IRA kein Communiqué herausgeben würde,in welchem sie als »legitime Ziele« bezeichnet wurden, und bislang war das auch noch nicht geschehen. Anders sah es natürlich bei Matty und mir aus, wir konnten ungestraft ermordet werden.
Wir kamen zum Bradbury Place und fanden Bradbury House in einer gepflasterten Straße in der Nähe von Pottinger’s Entry. Es handelte sich um einen frisch renovierten Altbau, der in mehrere Ladenlokale aufgeteilt worden war: Optiker, Reisebüro, Friseur.
Suite 11 lag im zweiten Stock.
Das Büro war voller Schreiner und Maler und Männer in weißen Overalls, die Telefonleitungen verlegten.
Scavanni begutachtete mit einem der Elektriker zusammen einen verbauten Sicherungskasten, der wohl kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eingebaut worden sein musste. Er sah uns und kam mit ausgestreckter Hand auf uns zu, wirkte aber leicht gereizt, so als habe er eigentlich nicht damit
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