Der Kaufmann von Lippstadt
gegraben hat. Der liegt jetzt tiefer und sicherer als alle Juden auf dem hiesigen Friedhof zusammen, denkt Overkamp bitter, als er mit Fußtritten den Toten in die Vertiefung stößt. Den Köpner spült kein Lippe-Hochwasser fort. Und wenn doch … Sei’s drum. Tot bleibt tot. Er füllt das Loch mit Erde auf, tritt sie fest, füllt noch einmal nach, tritt erneut fest. Dann stapelt er die schweren Holzkisten so, wie sie zuvor gestanden haben.
Erschöpft steigt Overkamp aus der Grube, seine Glieder schmerzen. Im ersten Tageslicht blickt er an sich herunter und sieht die nassen, dunklen Flecken an seiner Kleidung. Blut! Das Blut auf der Wiese, wo Köpner gelegen hat, fällt ihm ein. Mit aufsteigendem Grausen läuft Overkamp zu der Stelle und beginnt, die Grasbüschel auszureißen und in die Lippe zu werfen. Der Fluss soll alles mit sich nehmen. Immer wieder und wieder läuft er, beladen mit blutigem Gras, von der Wiese zum Wasser. Blind vor Zorn, dass Köpner noch einmal aus der Lippe gekrochen ist, zerrt Overkamp aus dem Boden, was er zu fassen bekommt. Wie von Sinnen stolpert er immer wieder zum Ufer und schleudert die Büschel in den Fluss. Kurz bevor es ganz hell ist, kratzt Overkamp mit aufgeschürften Händen die letzten blutigen Halme vom Boden. Auch sie wirft er ins Wasser, wo sie lautlos davontreiben. An seiner Kleidung kleben blutige Grashalme und bezeugen seine Tat. Hastig steigt er in die Lippe, um alles abzuspülen. Mit hohlen Händen lässt er sich das kühle Wasser über das Gesicht laufen. Eine Höllenangst befällt ihn; der Teufel ist über ihn gekommen. Overkamp bekreuzigt sich. »Herr Christ, erbarme dich meiner!«, ruft er, sackt zusammen und schlägt die Hände vor sein Gesicht. »Herr Christ, erbarme dich meiner! Was habe ich nur getan?«
64 Vgl.: Hans Christoph Fennenkötter: Die jüdischen Friedhöfe in Lippstadt. Tot ist nur, wer vergessen wird! Lippstädter Spuren. Schriftreihe des Heimatbundes Lippstadt, 4/1989, S. 17.
14. Mai 2010
An diesem Wochenende findet – wie in jedem Jahr – in Lippstadt das Altstadtfest statt. Es gibt kulturelle Veranstaltungen, viele Aktionen und einen verkaufsoffenen Sonntag.
Am Abend holt Oliver Annika vom Lippstädter Bahnhof ab und schlendert mit ihr Richtung Rathausplatz. Er erzählt ihr vom Güterbahnhof, einem heruntergekommenen Gelände, wo nun alles abgerissen werden soll, um ein Geschäftszentrum zu errichten, von den früheren Munitionsfunden und seiner Befürchtung, dass noch mehr gefunden werden könnte. »Ob das immer alles so harmlos ist, wie sie sagen, weiß doch niemand«, ergänzt er. »Stell dir vor, das schöne Lippstadt fliegt doch noch in die Luft.«
»Ja, wäre zu schade um dich«, meint Annika trocken und lacht.
»Schau mal, das Haus hier an der Ecke Kirchgasse/Rathausstraße, gehörte der Familie Overkamp, mit der ich mich beschäftigte. Lies mal dort oben, was im Balken steht«, fordert er Annika auf.
»Caspar Theodor Overkamp – Maria Theresia Upschulte – Anno 1657«, kann Annika mit Mühe entziffern. »Ein schönes Haus.«
»Ja. Manchmal fahre ich hier mit dem Rad vorbei und stelle mir vor, wie es früher war«, beginnt Oliver, unterbricht sich dann aber selbst. «Komm, ich lade dich zu einem Cocktail ein«, sagt Oliver und zieht Annika an der Hand über die Straße zum Rathausplatz. »Wenn wir drei Longdrinks trinken, bekommen wir einen Strohhut gratis. Wie wär’s?«
»Prima, ich würde einen pinkfarbenen Hut nehmen. Und du?«, fragt Annika.
»Einen normalen, also naturfarbenen. Sechs Cocktails schaffen wir wohl nicht. Sonst hätten wir beide einen Strohhut. Wir könnten dann im Partner-Look gehen«, freut sich Oliver und drückt Annika schnell einen Kuss auf die Wange.
»Was hat es mit dem Haus da drüben auf sich? Erzähl doch mal!«, fordert Annika ihn auf.
»Nicht jetzt«, wehrt Oliver das Thema ab. »Ich glaube, diese Cocktails haben es in sich. Superlecker, süß und Alkohol, den man erst bemerkt, wenn es zu spät ist.«
»Nein, drei schaffe ich auf gar keinen Fall. Dann kannst du mich hier wegtragen«, sagt Annika und nimmt sich vor, das Thema Overkamp für den heutigen Abend ruhen zu lassen. Ist schon komisch, dass Oliver darüber nicht sprechen will, wo er doch sonst mit seinem historischen Wissen nicht hinterm Berg hält.
»Ich würde dich sogar wegtragen, wenn der Alkohol dir zu sehr zusetzt. Dann lege ich dich über meine Schulter und trage dich zu mir nach Hause. Was hältst du davon?«, fragt
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