Der Kaufmann von Lippstadt
Jetzt. Wie du ja weißt, studiere ich Physik und erkläre mir die Welt anders. Was irgendwelche Steinzeitmenschen gemacht haben oder auch nicht, interessiert mich nicht. Kein Stück«, versichert Daniel.
»Mit dir kann man gar nicht vernünftig reden. Stell dir vor, ich finde heraus, dass ein früher Thielsen oder Overkamp den Physik-Nobelpreis bekommen hat. Das würde dir doch auch gefallen …«
»Ja klar, das ist auch was anderes.«
»Ach ja? Wieso denn?«, will Oliver wissen.
»Weil wissenschaftliche Beweise belegbar sind. Bewiesen ist bewiesen. Und – weil Intelligenz vererbbar ist«, grinst Daniel breit.
»Vielleicht hast du deine Sturheit von diesem Overkamp aus Westfalen geerbt. Das sagt man denen nach.«
»Westfalen? Kam da nicht Omas Kaufmann aus ihrer Geschichte her?«
»Deswegen ja. Ich bin ganz sicher. Der muss das sein. Und die Geschichte war ja so, dass der Kaufmann nach Lübeck kam. Der muss hier gewesen sein. Familienzusammenführung oder so.«
»Ja klar. Mit Greencard und allem Pipapo.«
»Quatsch, eine Greencard ist doch ganz was anderes. – Ich gehe morgen, nein, Montag, hier ins Archiv. Die müssen doch was wissen.«
»Jo-o, das ist deren Job. Mach das. – Ey, ich bin total fertig von deinen Geschichten und den leckeren Bieren. Lass uns gehen«, meint Daniel.
»Ist gut. Wenn du wieder einen klaren Kopf hast, denke mal über Omas Geschichte nach, vielleicht fällt dir noch was ein. Jedes Detail ist wichtig! Überleg und ruf mich an«, verlangt Oliver.
»Du musst mir jetzt deine Karte geben«, fordert Daniel.
»Was?« Oliver kann ihm nicht folgen.
»Ja, das geht im Film so. Der Hauptkommissar gibt dem Zeugen seine Visitenkarte, nachdem er genau dasselbe wie du gesagt hat. Guckst du sonntags keinen Tatort?«
»Doch, natürlich!«
»Komm morgen Abend, also eigentlich schon heute Abend, vorbei, dann gucken wir zusammen. Es kommt ein Münster-Tatort. – Oh, das trifft sich gut. Ist nicht deine tote Leiche von den Baggerarbeiten jetzt auch in Münster?«, freut sich Daniel.
»Das ist nicht meine Leiche.« Oliver ist genervt.
»Und du bist der Kommissar Thiel, Axel Prahl. Thiel statt Thielsen. – Super, wie das passt. Ich bin Professor Dr. Karl Friedrich Boerne – gestatten.« Mit einer korrekten Verbeugung verabschiedet sich Daniel und schiebt sein Fahrrad die Straße hinauf.
24ter Junij 1764
Sämtliche Kirchenglocken der Stadt bleiben heute stumm. Ferdinand Overkamp geht mit seiner Gemahlin und den drei Kindern in den sonntäglichen Gottesdienst der dem Hause Overkamp gegenüberliegenden Großen Marienkirche. Er kann sich kaum erinnern, welches Ammenmärchen er seiner Frau und der alten Magd erzählt hat, um seine nasse und blutige Kleidung zu erklären. Johanna ist darüber sehr verärgert und straft ihn mit Schweigen.
Der zweite Prediger, Peter Johan Friederich Dreckmann 65 , begrüßt die Gläubigen vor dem Gotteshaus. »Heute feiern wir den Gottesdienst nochmals hier draußen. Die Verwüstungen der Explosion sind noch nicht beseitigt. Das Gebälk ist stark beschädigt. Wir wissen nicht, ob es hält. Schon allein wegen der schweren Glocken. Wir beginnen mit dem Lied ›Aus tiefer Not schrei ich zu dir‹ 66 «
Aus tiefer Not schrei ich zu dir,
Herr Gott, erhör mein Rufen.
Dein gnädig Ohren kehr zu mir
Und meiner Bitt sie öffnen.
Denn so du willst das sehen an,
Was Sünd und Unrecht ist …
Sünd und Unrecht. Sünd und Unrecht. Overkamps innere Stimme übertönt den Gesang. Sünd und Unrecht. Er hat drei Menschen getötet!
Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gonst,
Die Sünden zu vergeben.
Auf hinterhältige Art und Weise. Wie von allein war es geschehen. Ohne nachzudenken. Die Gunst der Stunde genutzt. Erschlagen. Halb geköpft. Köpners Anton ist tot. Mausetot.
Es ist doch unser Tun umsonst
Auch in dem besten Leben.
Umgebracht und verscharrt von ihm, dem angesehenen Lippstädter Kaufmann Ferdinand Overkamp. Einst unbescholtener Bürger der stärksten Festung zwischen Rhein und Weser. Stolz waren sie auf Lippstadt gewesen. Anfang letzten Jahres noch feierten die Lippstädter, als ›[…] zwischen Preußen einerseits und Oestreich, Sachsen wie dem deutschen Reiche anderseits […] der für Preußen so glorreiche Friede zustande kam. Mit der größten Freude feierten damals Lippstadts […] Einwohner das Dankesfest, welches auf Befehl des Preußischen Königs in allen Westfälischen Besitzungen desselben am 13. März abgehalten wurde. An diesem frohen
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