Der Kaufmann von Lippstadt
vergangenen Nacht hatte er seit Langem wieder von Imke geträumt. Auch das noch! Dabei hat er doch sein Leben in Lippstadt neu ordnen und so ganz nebenbei noch ein Geheimnis aufdecken wollen. Und jetzt? Das Chaos in seinem Leben nimmt eher zu. Aber ein Geheimnis scheint es wirklich zu geben. Allein die Sache mit dem Sprengstoff-Fund und dem Skelett ist spannend. Er muss dran bleiben!
Am Abend sitzt Oliver mit seinem Bruder Daniel im Lübecker Traditionsbrauhaus ›Brauberger‹ neben dem kupfernen Sudwerk. Nach ein paar Bieren erzählt Oliver von der alten Lippstädter Familie, die alles verloren hat, von Lippstadt während des Siebenjährigen Krieges und vom heutigen Lippstadt mit dem Granaten- und dem Skelett-Fund.
»Soll ich dir mal verraten, wie diese Lippstädter Familie hieß?«, fragt Oliver.
»Sag!«
»Overkamp.«
»Ach. – Wie Omas Mädchenname?«
»Ganz genau.«
»Wie bist du drauf gekommen?«
»Ich habe einen Brief gefunden, in ihrem alten Sekretär. Den habe ich mir hier im Archiv übersetzen lassen.«
»Übersetzen? Spricht man in Lippstadt kein Deutsch?«, sagt Daniel spitz.
»Doch, natürlich. Aber die Schrift war so fremd und verschnörkelt. Hier, lies mal.« Oliver zieht die getippte Abschrift aus der Hosentasche.
Liebste Katharina,
sicher bist du überrascht, so schnell von mir, deinem großen Bruder Ferdinand, zu hören. Aber bei uns ist eine delikate Situation eingetreten, und ich muß dich um deine Hülfe bitten. Ja, ich werde dich anflehen, mir, uns, zu helfen.
Stell dir vor, Elisabeth trägt ein Kind unter dem Herzen. Durch eine Unachtsamkeit erfuhr ich, wer der Vater war ist, denn sie schweigt und weint. Ohne Unterlaß. Ich nenne seinen Namen nicht, denn dieser ist ohnehin nicht mehr von Bedeutung, und falls dieser Brief in falsche Hände gerät, bleibt wenigstens die Vaterschaft geheim.
Das Einzige, was ich für mein liebes Lieschen noch tun kann, ist, sie aus der Stadt zu bringen. Noch wissen die Leute nichts, aber stelle dir das Gerede vor. Eine solche Schande könnte die Familie Overkamp nicht verkraften. Meine Geschäfte laufen hervorragend, und ich möchte wegen ihres Fehltritts nicht alles verlieren. Bitte, liebste Katharina, nimm Lieschen bei dir in Lübeck auf. Suche einen Platz, wo sie entbinden kann. Und hoffentlich findest du eine Familie, die das Kind annimmt und aufzieht. Du weißt, ich habe das Geld, ich kann es mich etwas kosten lassen. Wichtig ist einzig, daß gar niemand in Lippstadt von Lieschens Umständen erfährt. Ob sie nach der Geburt nach Hause zurückkommen kann, wird die Zeit zeigen. Bitte nimm sie auf, ich flehe dich an, meine geliebte Katharina.
Ich werde eine Depesche zu deinem Schwager, meinem Lübecker Geschäftsfreund Hinrich Jost Matthiesen, schicken, bei ihm eine große Menge Destillate und französische Weine bestellen und ihn hier nach Lippstadt einladen. Bestimmt kommt er gerne; er deutete einst an, Lippstadt kennenlernen zu wollen. Ich hoffe, daß er mir so verbunden ist, daß er Lieschen mit nach Lübeck zu dir nimmt.
Bitte, bitte, liebste Katharina, du mußt uns helfen. Wir verlieren sonst alles!
Dein dich liebender Bruder Ferdinand
Lippstadt, im Mai 1764
Daniel liest den Brief ein zweites Mal.
»Noch zwei Bier, bitte«, ruft er der Kellnerin zu. »Das ist ja ein Ding. Mir ist allerdings nicht klar, was Oma mit der Sache zu tun hat.«
»Oma ist eine geborene Overkamp, eine Lübecker Familie, dachten wir bisher immer. Ich stelle mir vor, dass Oma von diesem unehelichen Kind abstammt, um das es im Brief geht. Das Lieschen hat scheinbar das Kind hier in Lübeck bekommen und ist hiergeblieben. Vielleicht ging es ihr hier viel besser als den Overkamps in Lippstadt. Wenn das die richtige Familie ist, dann hat sie alles verloren. Nach und nach alles weg. Ich weiß nur nicht, wieso«, erläutert Oliver seine Überlegung.
»Jetzt sag nicht, deswegen bist du nach Lippstadt gegangen? Das kann doch wohl nicht wahr sein. Weil vielleicht Omas Vorfahren in grauer Vorzeit daher kamen? Ist doch total egal«, empört sich Daniel.
»Nein, ist es eben nicht. Mir ist es wichtig, zu wissen, wo die Overkamps und auch die Thielsens herkommen. Was haben sie gemacht? Was für Berufe hatten sie?«, ereifert sich Oliver.
»Oliver Thielsen, unser Hüter der Tradition! Reiche das Feuer weiter, nicht die Asche! «, spottet Daniel.
»Jetzt sei doch mal ernst. Du interessierst dich kein Stück für Geschichte, oder?«
»Nein. Ich lebe heute. Im Hier und
Weitere Kostenlose Bücher