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Der Kaufmann von Lippstadt

Der Kaufmann von Lippstadt

Titel: Der Kaufmann von Lippstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rita Maria Fust
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hier … Er radelt weiter. An der Obertrave, Dankwartsgrube. Diese schönen Giebel. Wie konnte ich nur von hier weggehen? Da, der Dom mit seinen beiden Türmen. So alt wie die Stadt selbst. Am Mühlendamm stellt er das Rad ab und betritt das Archiv.
    Oliver erzählt dem Archivar von seiner verstorbenen Oma, dem alten Brief von 1764 aus dem Sekretär, dass im selben Jahr eine große Explosion Lippstadt beinahe dem Erdboden gleichgemacht hätte und dass er vermutet, dass etwa 1765 oder spätestens 1766 ein oder mehrere Overkamps nach Lübeck gekommen seien.
    »Was sagten Sie, woher kamen die Overkamps?«, fragt der Archivar.
    »Aus Lippstadt. Das liegt in Nordrhein-Westfalen.«
    »Lippstadt … Lassen Sie mich nachdenken. Wir hatten mal was, wo Lippstadt erwähnt wurde …«, grübelt der Archivar. »Ach ja! Anfang des Jahres bekamen wir zwei handgeschriebene Seiten von einem Restaurator. Er hatte eine Rokoko-Kommode zur Aufarbeitung in seiner Werkstatt. Ein ganz kostbares Stück. Die Alterspatina hatte sie unansehnlich werden lassen, die Schubladen klemmten und so weiter. Der Restaurator kommt aus Süddeutschland und hat das Möbelstück ersteigert. E-Bay womöglich; ich weiß es gar nicht mehr so genau. Er erzählte, dass er die Kommode komplett auseinandernehmen musste und dabei diese Papiere gefunden habe. Hinten an einer der breiteren Schubladen war eine doppelte Wand. Anfangs habe er gedacht, dort sei das gute Stück in früheren Zeiten schon einmal repariert worden. Bei genauerer Betrachtung stellte er dann fest, dass es ein Geheimfach war. Der Mann war ganz aufgeregt vor Freude, denn diese Papiere sind mit 1765 datiert. Für ihn bestätigt der Fund die Authentizität der Kommode. Ich meine, allein der Stil, Rokoko, lässt eine Datierung zu. Aber diese Papiere! Wunderbar. Ich glaube, am liebsten hätte er sie behalten. Kann ich auch verstehen. Eine wunderschöne Handschrift, kostbares Hadern-Papier, hervorragend erhalten. Es ist ja so, dass viele alte Dinge von ihren Findern einfach weggeworfen werden. Die meisten Menschen erkennen weder den Wert noch ahnen sie, wie wir Archivare und Erforscher der Vergangenheit Stückchen für Stückchen damit alte Zeiten und ihre Ereignisse rekonstruieren können. Es tut mir in der Seele weh, wenn ich daran denke.«
    »Was sind das denn für Papiere?«, fragt Oliver.
    »Entschuldigen Sie, da sind wohl die Pferde mit mir durchgegangen. Holsteiner.« Er lacht über seinen eigenen Witz. »Bitte warten Sie einen Moment. Ich hole die Papiere. Setzen Sie sich doch.«
    Oliver schaut sich im Lesesaal um. Zwei ältere Herren sitzen an den Mikrofiche-Lesegeräten und studieren etwas. Die anderen Plätze sind leer. Es ist ganz still. Kein Laut ist zu hören. Auch von draußen nicht. Es ist wie eine andere Welt, eine vergangene.
    Der Archivar kommt zurück.
    »Schauen Sie sich diese wunderschöne Handschrift an. Ich vermute, es hat eine Dame aus gutem Hause geschrieben. Dafür spricht unter anderem die Qualität des Papiers. Sie wissen, dass im 18. Jahrhundert noch lange nicht alle Menschen lesen und schreiben konnten? Das nahm erst mit der bürgerlichen Aufklärungsbewegung langsam zu. Das Lesen und Schreiben galt damals als kulturelle Beschäftigung für Frauen aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum. Denken Sie nur an die Autorinnen der Romantik. Ich liebe die Dichtungen von Karoline von Günderode, Bettina von Arnim, Rahel Varnhagen und den anderen Damen der literarischen Berliner Salons. Wunderbar, einfach wunderbar! – Entschuldigen Sie, ich komme vom Thema ab. Diese beiden Dokumente sind wahrscheinlich keine Briefe – obwohl das 18. Jahrhundert in Deutschland als das Jahrhundert des Briefes gilt. Denken Sie nur an Goethes Briefroman ›Die Leiden des jungen Werthers‹. 1774. Das passt ja in etwa in die Zeit, die Sie interessiert. Also, diese beiden Seiten stammen vermutlich aus einem Tagebuch. Ich habe hier die Abschriften. Wenn Sie sie lesen möchten?«
    »Ja gerne.« Oliver raucht der Kopf. Dieser Mann kommt von Hölzchen auf Stöckchen.
    »Sehen Sie, hier im Original können Sie erkennen, dass die beiden Seiten herausgerissen wurden. Der Text hat auch keinen Anfang.«

    Stadtarchiv Lübeck, C 2754, Fragment, Folio 1 69
    Strapazen der Reise gewesen, die die beiden so müde aussehen lassen. Doch es handelt sich anscheinend eher um Sorgenfalten. Und dünn ist er worden. Ausgemergelt, voller Gram, verbittert. J ist unglücklich und wäre gerne in L geblieben.
    Zwölf Tage

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