Der Kaufmann von Lippstadt
Spaten in den Hals gejagt, weil dieser vorgab, gesehen zu haben, was sich Overkamp am Munitionsschuppen hat zuschulden kommen lassen. Dann hat der Engerling vorgesprochen, er habe gesehen, wie sich Overkamp des Köpners entledigt habe. Als sei das alles nicht schon schlimm genug, ist ihm auch noch klar geworden, dass er einen unschuldigen Burschen erwischt hat – und dessen Freund auf unerklärliche Weise noch dazu. Den Sachschaden lässt Overkamp bei seiner grausamen Auflistung dessen, was geschehen ist, außen vor. Hier geht es um Menschen. Der Buersmeyer wollte auch einen Teil haben und machte allerlei Andeutungen, Elisabeth habe sich mit Kerkmanns Stephan getroffen – darum muss er sich noch kümmern, erinnert sich Overkamp selbst. Buersmeyer hat er aus seinem Dienste entlassen müssen, die ganze Sache ist so nicht mehr tragbar gewesen. Seitdem fehlt von dem Kaufmannsdiener allerdings jede Spur. Jetzt muss noch der Engerling hängen. Am Soest Tor. Da fällt Ferdinand Overkamp das Buch ein, welches Matthiesen ihm mitgebracht hat, als er im Juni nach Lippstadt gekommen ist. Anfangs hat sich Overkamp gefragt, wozu er hier in Westfalen so ein Buch braucht, welches zeigt, wie welcher Knoten gelegt wird. Doch jetzt blättert er, beinahe wie auf glühenden Kohlen sitzend, von Seite zu Seite. Overkamp ist eine Eingebung gekommen, die er nun prüfen will. Wie viele verschiedene Knoten es gibt, staunt er. Und sie halten am besten, wenn sie unter Zug stehen. Ah, da ist er ja, der Henkersknoten!, freut sich Overkamp. Dabei muss man mehrere Rundtörns um die Schlinge legen. Ziehen. Das will geübt werden, denkt Overkamp und sucht das alte Seil seines Lastenaufzuges, welches er vorsichtshalber im Sommer hat auswechseln lassen, damit er seine Waren sicher auf den Dachboden ziehen konnte. Dass es so weit nicht kommt, hat er nicht geahnt.
Ferdinand Overkamp wickelt den fünften Rundtörn um die Schlinge. Es lässt sich bereits erkennen, was es werden soll, doch das Seil gleitet ihm aus den Händen. Nächster Versuch. Neun Mal liegt nun der Rundtörn um die Schlinge, und wenn er am langen Ende des Seiles zieht, schließt sich diese. Jetzt muss noch Engerlings Kopf drinstecken, und ich bin aller Sorgen ledig, denkt Overkamp. Vor seinem inneren Auge baumelt Engerling bereits am Soest Tor.
Als sei er bestellt, klopft Engerling mit dem Messingklopfer an die Tür und betritt das Kontor, ohne auf eine Aufforderung zu warten. Mehr und mehr betrachtet er das Kontor als seines und sieht sich schon wichtige Dokumente am Schreibtisch bearbeiten.
Hektisch wirft Ferdinand Overkamp die Schlinge unter den Tisch und schlägt das Buch zu. ›Köpner schlägt auf die Granatenkiste auf.‹ Overkamp schüttelt kaum merklich den Kopf, um die scheußlichen Bilder zu vertreiben, und schließt dabei die Augen. ›Köpners Blut spritzt.‹
»Was wollen Sie dieses Mal?«, fragt Ferdinand Overkamp gottergeben. Die Pein der Zeitungsmeldung und der Kartenspiele steckt ihm noch in den Knochen. Ansehen hat er kaum noch zu verlieren.
»Heute nehme ich …« Engerling blickt sich um. »Heute nehme ich etwas zu lesen. Ein Knoten-Buch. Womit Sie sich so beschäftigen!«, wundert sich Engerling. »Eigentlich wollte ich nur hören, wie es Ihnen ergeht, jetzt, wo alle in Lippstadt von Ihrer üblen Lage wissen. Es tut mir unbeschreiblich gut, zu sehen, wie Sie immer tiefer sinken«, freut er sich und verlässt pfeifend mit dem Buch unter dem Arm das Kontor.
Verzweifelt schlägt Ferdinand Overkamp die Hände vor sein Gesicht und reibt sich die Augen. Sofort sieht er, wie das Blut aus Köpners Hals spritzt und sich auch nicht aufhalten lässt …
»Heute Abend wieder im ›Goldenen Hahn‹«, fordert Engerling, der noch einmal zurückgekommen ist, um Overkamp dieses mitzuteilen. »Sie wissen schon …« Mit einem fiesen und durchtriebenen Grinsen deutet er an, was Overkamp am Abend zu erwarten hat.
Ferdinand Overkamp zuckt zusammen. Gut, dass niemand sieht, welche Bilder sich in seinem Kopf festgebissen haben. Er nickt kurz, und Engerling zieht laut die Kontortür zu. ›Köpner schlägt auf die Kiste auf.‹
»Herr Christ, erbarme dich meiner. Was soll ich nur machen?«, fragt Overkamp sich selbst. »Wie bekomme ich bloß den Engerling ans Soest Tor?« Den Nachmittag verbringt Overkamp damit, eine Antwort auf diese Frage zu suchen. »Was soll ich nur machen«, sagt er immer wieder zu sich selbst. Um sich einen Überblick zu verschaffen, fertigt er eine
Weitere Kostenlose Bücher