Der Kaufmann von Lippstadt
Vorstand. Sein Name, das entsprechende Aktenzeichen, Versteigerung am 15. September 2010, Amtsgericht Lippstadt und – für Oliver das Schönste – die Anschrift des Hauses: Kirchgasse 2, 59555 Lippstadt.
In der Marktstraße hält Oliver an und lässt die Bietungsbürgschaft im Copy-Shop kopieren. Sicher ist sicher. Diese Bürgschaft ist für ihn der Anfang von etwas Neuem. Jetzt gelingt es mir, in Lippstadt mein Leben nicht nur neu zu ordnen, sondern auch Lippstadt zum Dreh- und Angelpunkt meines Lebens zu machen, freut sich Oliver. Das ist echt krass.
114 Diese fiktiven Grabsteine orientieren sich an: Hans Christoph Fennenkötter: Der Kindergrabstein in St. Jakobi. Vater, Mutter und Tochter fanden ihre letzte Ruhestätte in der Kirche. In: Heimatblätter 87, 2007, S. 1-5.
15. September 2010
Seit kurz vor vier ist Oliver wach. Niemandem hat er erzählt, dass er das Overkamp’sche Haus ersteigern will. Es soll zurück in den Familienbesitz. Seine Eltern und sein Bruder werden ihn für verrückt erklären, wenn sie davon erfahren. ›Lippstadt, da ist doch nichts los‹, werden sie sagen. ›Was willst du da?‹ Nur zu gut erinnert sich Oliver an das Gespräch mit seinem Bruder im ›Brauberger‹ in Lübeck. Daniel hat nicht verstehen können oder wollen, dass für Oliver die Familie und deren Geschichte von großer Bedeutung sind. Und Lippstadt gehört nun mal untrennbar mit den Overkamps zusammen. Und er selbst auch. Oliver Thielsen. Oliver Overkamp, denkt er und muss lachen. Klingt auch gut.
Immer wieder hat er den Beschluss des Amtsgerichts Lippstadt gelesen, den er von www.zvg-portal.de ausgedruckt hatte:
›Im Wege der Zwangsvollstreckung soll am Mittwoch, 15. September 2010, 9.00 Uhr, im Amtsgericht Lippstadt, Lipperoder Straße 8, 59555 Lippstadt, 1. Stock, Saal V, das im Grundbuch von Lippstadt Blatt … eingetragene Eigentum versteigert werden.‹ Die Grundbuchbezeichnung kannte er auswendig. ›Der Verkehrswert wurde gemäß § 74 a Absatz 5 ZVG auf 215.500 € festgesetzt. Lippstadt, den …‹
Leider ist es auch in diesem Fall so, dass das Gebäude nicht besichtigt werden darf. Der Schuldner hat dem nicht zugestimmt. Es gilt jetzt also, die Katze im Sack zu ersteigern. Das kann ein Glücksgriff sein oder sich als ein Desaster entpuppen. Es ist ein hohes Risiko, das Bieter eingehen.
Oliver stellt sein Rad am Fahrradständer im Innenhof des Amtsgerichts ab. Frisch ist es, er hat kalte Hände und Füße. Er schaut sich um. 70er-Jahre-Bau. Nicht schön. Rechts liegt der Haupteingang. Das Gebäude kann man nur durch eine Sicherheitsschleuse mit Metalldetektor betreten. Wie auf Flughäfen. Mit so etwas hat Oliver hier im beschaulichen Lippstadt nicht gerechnet. Er will doch nicht das Pentagon besichtigen. Er geht durch die Schleuse. Es piept und kleine rote Lämpchen blinken. »Ist okay«, sagt der Wachmann. »Gehen Sie weiter.«
Oben in Saal V beginnt die Zwangsversteigerung. Der Rechtspfleger gibt das Objekt bekannt: Kirchgasse 2, 59555 Lippstadt. »Die Eigentümer sind Barbara und Wolfgang Engerling«, sagt er. Bei dem Namen Engerling läuft Oliver ein Schauer über den Rücken. Er muss das Overkamp’sche Haus unbedingt haben. Aber hier sind mehr Menschen, als er gedacht hat. Ob die alle bieten wollen? Sie wollen. Schließlich liegt die Kirchgasse in bester Lage, und die sich dort befindenden Geschäfte sind allesamt inhabergeführte, kleine, stilvolle Fachgeschäfte. Direkt neben dem Overkamp’schen Haus ist ein wundervolles edles Juweliergeschäft. Man muss sogar klingeln, um hineingelassen zu werden. Das Overkamp’sche Haus selbst ist, von außen betrachtet, in gutem Zustand. Das lässt hoffen, dass es auch innen einigermaßen in Ordnung ist.
Nach exakt 30 Minuten beendet der Rechtspfleger das gegenseitige Überbieten und ruft: »Das Gebot von 197.500 € zum Ersten! 197.500 € zum Zweiten. Bietet jemand mehr?« Er hält kurz inne. »Nein? 197.500 € zum Dritten. Gut. Dann erhält Herr, ähm …«, der Rechtspfleger wirft einen Blick auf die Bietungsbürgschaft, »… Thielsen, Herr Thielsen erhält den Zuschlag. Gratuliere!«
Mit rasendem Herzklopfen findet sich Oliver auf der breiten 70er-Jahre-Treppe des Amtsgerichts wieder. Er hat das Haus ersteigert. Das Overkamp’sche Haus gehört jetzt ihm! Wieder im Familienbesitz. Nach … nach … 245 Jahren. Unfassbar! Sollte er jetzt Annika anrufen? Oder seine Eltern? Er besitzt ein Haus. Das Haus! » Mein Haus«, flüstert Oliver,
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