Der Kaufmann von Lippstadt
Holzfachwerk gesetzt wurde. Wie gerne hätte Oliver einen Blick in den Raum geworfen, doch Lamellen versperren den Blick in das ungenutzte Ladenlokal, das früher das Kontor des Overkamps gewesen sein muss. An diesem Ort hat Ferdinand Overkamp gelebt, gearbeitet und sich eines Verbrechens schuldig gemacht. Seine Kinder wurden in diesem Haus geboren, und nach und nach hat Overkamp seine Söhne auf dem Kirchhof der Großen Marienkirche begraben müssen. Woran waren sie gestorben? Der älteste Sohn ist an Fieber gestorben, wie einer der Grabsteine im Stadtmuseum verrät. Dort stehen neben dem Grabstein der Familie Rose auch die Grabsteine der Kinder Overkamp. 114 Alles Anröchter Sandstein. Oliver hat die Steine mit seinem Smartphone fotografiert, um die Inschriften in Ruhe zu Hause übersetzen zu können. Endlich ist sein Latinum für etwas gut, freut er sich, als er zu Hause die lateinischen Inschriften übersetzt:
D.O.M.S.
Ferdinand
Overkamp
filius
huiusmercatoris
Ferd. Casp. Theod.
Overkampi
postquamperpaucos
menes
vixit cum
febriconflixit
XDCCL
Gott dem Besten und Größten zum Opfer / Ferdinand Overkamp / Sohn / des Kaufmanns Ferdinand Caspar Theodor Overkamp / ist /
im Alter von wenigen Monaten /
dem Fieber erlegen /
1750
D.O.M.S.
Theodor Overkamp
Filius
huiusmercatoris
Ferd. Casp. Theod.Overkampi
obiit
XDCCLIII
Gott dem Besten und Größten zum Opfer / Theodor Overkamp / Sohn / des Kaufmanns /
Ferdinand Caspar Theodor overkamp / starb /
1753
D.O.M.S.
Caspar Overkamp
XDCCLIV
et
Friedrich Overkamp
XDCCLV
filii
huiusmercatoris
Ferd. Casp. Theod. Overkampi
animassuasdeo corpora sua terrae reddiderunt
Gott dem Besten und Größten zum Opfer / Caspar Overkamp / 1764 /
und / Friedrich Overkamp /
1765 / Söhne / des Kaufmanns Ferdinand Caspar Theodor Overkamp / haben Gott ihre Seelen, der Erde ihre Leiber zurückgegeben
Durch die neben dem Schaufenster liegende Eingangstür war Ferdinand Overkamp als erfolgreicher Geschäftsmann, als stolzer Ehrenmann, als Ratsherr und später als Mörder ein und aus gegangen. So sehr Olivers Gedanken auch die Ereignisse von 1764 und ’65 umkreisen, egal, wie schuldig sich Overkamp gemacht haben mag, es gelingt Oliver nicht, Overkamp als einen Verbrecher zu sehen, sondern er betrachtet ihn als einen Mann, der alles für seine Kinder und seine Familie getan zu haben scheint und dabei vermutlich Grenzen überschritten hat. Es war eine andere Zeit und es waren andere Lebensverhältnisse. Natürlich ist es unentschuldbar, einen oder gar mehrere Morde zu begehen, ganz klar. Aber hätte Overkamp das nicht gemacht, wäre die Geschichte der Familie vergessen, und es stünde lediglich der Name ›Overkamp‹ im Querbalken. Nein, das ist unlogisch, ruft sich Oliver zur Vernunft. Oder es gäbe vielleicht noch Overkamps in Lippstadt, die hier in der Kirchgasse seit 1657 lebten; vielleicht hieße heute der Bürgermeister nicht Christof Sommer, sondern Overkamp. Wer kann das schon wissen? ›Caspar Theodor Overkamp – Maria Theresia Upschulte – Anno 1657 – soli deo gloria‹, liest Oliver im Querbalken. ›Wer Godt Vertrauet Fest Auf Ihn Bawt den will er nicht verlassen. Renovatum 1985‹.
Oliver kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. 1985 wurde er geboren. Wenn das kein Zeichen ist …
Kurze Zeit später betritt Oliver das Immobilienhaus der Sparkasse in der Spielplatzstraße.
»Guten Tag. Danke, dass ich so schnell einen Termin bekommen habe«, begrüßt Oliver die Dame.
»Gerne. Es muss ja zügig gehen, wenn Sie am Mittwoch mitbieten möchten. Es geht doch um die Zwangsversteigerung?«, vergewissert sie sich.
»Ja genau. Kirchgasse 2«, bestätigt Oliver.
»Gut, dann zeigen Sie mir mal Ihre Unterlagen. Die Nachweise über Ihr Vermögen haben Sie doch dabei?«, fragt die Dame.
»Ja, alles hier drin«, sagt Oliver und klopft mit der Hand auf seinen Rucksack. »Meine Großmutter ist Anfang des Jahres gestorben, und ich habe einiges geerbt.«
Die Dame sichtet die Papiere, macht sich Notizen, rechnet, schreibt, fragt ein paar Dinge und kommt dann zu dem Schluss, dass Oliver bis zu einem bestimmten Betrag bieten darf.
»Danke. Ganz herzlichen Dank. Sie glauben gar nicht, was Sie mir damit möglich machen!«, sagt Oliver und verabschiedet sich. Sein Herz klopft vor Freude ganz doll.
Als Oliver auf die Spielplatzstraße hinaustritt, hält er eine Bietungsbürgschaft in seinen Händen. Büttenpapier, Wasserzeichen der Sparkasse, unterzeichnet vom
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