Der Kaufmann von Lippstadt
das ist machbar. Er muss sich nur aufraffen, dann klappt das schon. Schwieriger wird es vermutlich, den Engerling aus seinem Haus zu werfen. Das ist ein Choleriker, ein Querulant, ein überheblicher Loser. Unberechenbar. Ich muss echt aufpassen, dass er mich nicht fertigmacht, denkt Oliver.
Um sich nicht noch schlimmere Szenarien auszudenken, steht Oliver wieder auf und blättert in Hagemanns ›Festung‹. Irgendwo hat er etwas über das Schauroth’sche Palais gelesen. Da ist er ganz sicher. Dann endlich findet er die Stelle: ›Neue Tore und Straßen‹, lautet die Überschrift. ›Die Wallpoterne des Soest Tores auf dem Grundstück des Justizrats Rose blieb erhalten und wurde in einen Neubau einbezogen, der später der Familie Kellerhaus gehörte und 1857 durch den Kammerherrn von Schauroth an die katholische Kirchengemeinde als Hospital zum Verkauf gelangte. Der Erhalt der Wallpoterne war möglich, da der im Rahmen des 1669 erfolgten Festungsausbaues geschaffene Stadtausgang nach der Niederlegung des Hauptwalles wieder aufgegeben worden war und die Soeststraße ihre ursprüngliche Funktion als Torstraße zurückerhalten hatte.‹ 115
Wie muss er sich das vorstellen? Die Erdmassen des Festungswalls wurden rechts und links des gemauerten Durchgangs – der Poterne – entfernt, bis alles ebenerdig war? Und dann wurde ein Haus quasi um die Poterne drum herum gebaut? Cool, das würde mir auch gefallen. ›Luxuriöse Wohnung im historischen Tor der Stadt‹ könnte ein Werbeslogan eines Immobilienmaklers lauten, denkt Oliver im Einschlafen. ›Leben Sie im Wandel der Zeit‹.
Im Traum sieht Oliver Ferdinand Overkamp als schneidige Erscheinung durch die Poterne schreiten. Ein Pferdegespann zieht einen Flachwagen mit Heu. Ein Ackerbürger treibt Kühe vor sich her. Zwei Frauen in traditioneller Kleidung sprechen miteinander und tragen Körbe am Arm. Kinder spielen. Normales, reges und geschäftiges Treiben der Lippstädter am Soest Tor. Dann zieht ein Gewitter auf. Der Wind peitscht den Regen direkt in die Poterne. Das große, schwere zweiflügelige Tor zeigt zur Wetterseite, nach Westen. Ferdinand Overkamp wird vom Blitz getroffen und verwandelt sich in einen Werwolf, der seine Feinde genüsslich zerfleischt. Blut spritzt. Donnergrollen begleitet Overkamps Tat. Nassgeschwitzt und mit Herzrasen schreckt Oliver auf. Was ist nur mit Overkamp geschehen, überlegt er. Ich muss es herausfinden!
Am Abend holt Oliver Annika vom Bahnhof ab. Arm in Arm schlendern sie durch die Lange Straße.
»Wo gehen wir hin?«, fragt Annika.
»Ins ›Alte Brauhaus‹«, antwortet Oliver. »Das liegt quasi bei mir um die Ecke. Ganz nah. Rathausstraße.«
»Aha. – Was hast du denn jetzt vor?«, erkundigt sich Annika, als beide kurz vor dem Overkamp’schen Haus stehen bleiben. Ohne auf eine Antwort zu warten, liest sie die Inschrift: ›Wer Godt Vertrauet Fest Auf Ihn Bawt den will er nicht verlassen‹.
»Dieselbe Inschrift steht auch noch mal an dem Haus da vorne in der Rathausstraße 10. Das Haus ist aus demselben Jahr wie dieses. 1657. Scheint damals in gewesen zu sein, dieser Spruch«, vermutet Oliver.
»Gott spielte damals im Leben der Menschen eine weit wichtigere Rolle als heute. Da fällt mir ein: Warst du eigentlich irgendwann in Bielefeld im Archiv des westfälischen Landeskirchenamtes? Das hatte man dir im Generalvikariat Paderborn doch empfohlen«, erinnert sich Annika.
»Nein, war ich nicht. Aber ich werde das noch irgendwann machen. Wenn du magst, kannst du mitkommen«, schlägt Oliver vor.
»Nach Bielefeld? Bielefeld gibt es doch gar nicht«, lacht Annika.
»Was? Ich kann dir nicht folgen«, entgegnet Oliver.
»Kennst du nicht die Bielefeld-Verschwörung? Google das mal«, empfiehlt Annika, »sonst hast du eine Bildungslücke!«
»Ja, mache ich«, sagt Oliver gedankenverloren mit Blick auf sein Haus.
Drinnen ist alles dunkel. Oliver stellt sich die gute Stube – wo auch immer sie im Haus sein mag, bestimmt wie damals üblich, in der ersten, der Bel Etage – so edel und schön vor, wie der Vier-Jahreszeiten-Raum im heutigen Stadtmuseum ist. Prächtige Stuckornamente an der Decke: Blüten- und Feigenranken mit Schlössern, Burgen und Kirchen. Ein beeindruckender Kronleuchter mit zwölf Kerzen. Kristallglastropfen brechen das Licht. Es ist gemütlich und warm. Das dunkle Holz der Kommode glänzt. Es duftet nach Essen. Etwas mit Äpfeln, Zimt …
»Oliver, träumst du?«, reißt ihn Annika in die
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