Der Kaufmann von Lippstadt
hat schon den Engerling in der Schlinge, jetzt muss er auch hängen! Ein Blitz erhellt für einen kurzen Augenblick das Innere des Durchgangs. Vor dem gemauerten Steinwerk steht – Dr. Johann Conrad Rose.
»Overkamp! Was machen Sie denn bei dem Wetter hier?«, erkundigt sich dieser. »Sind Sie auch vom Wetter überrascht worden?«
»Ja, also, ja. Das kann man so sagen«, stammelt Ferdinand Overkamp und überlegt beinahe fiebrig, ob und was Dr. Rose gesehen haben könnte. Wie fahrig muss man eigentlich sein, dass einem immer wieder derselbe Fehler unterläuft? Selbst wenn der Engerling jetzt tot ist, er kann schlecht auch noch Dr. Rose umbringen, damit dieser nichts verraten kann. Das geht nun wirklich nicht. Einen Dr. Rose bringt man nicht um. Das ist noch jemand von Format. Ein Ehrenmann mit Einfluss, der im kommenden Jahr erneut Bürgermeister zu werden gedenkt.
»Wie sehen Sie denn aus?«, fragt Dr. Rose erschrocken. »Sie sind ja voller Matsch. Sind Sie gestürzt?«
»Gestürzt? Ja. Ja! Genau. Ich bin gestürzt. Auf dem Festungswall ist es vom Regen rutschig, und dann …«
»Ja, ja. Das verstehe ich. Das kann schnell passieren. Und Ihre Augenbraue? Sie bluten. Bestimmt sind Sie auf einen Stein aufgeschlagen«, vermutet Dr. Rose.
»Stein aufgeschlagen … ja«, stammelt Overkamp weiter.
»Gehen Sie gleich zu Dr. Buddeus. Das ist ja nicht weit!«, empfiehlt Dr. Rose.
»Ja. Ist nicht weit. Soeststraße«, sagt Ferdinand Overkamp. Ihm ist nicht klar, ob Dr. Rose etwas beobachtet hat und ihm jetzt bewusst alle Antworten vorgibt, um der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen.
»Kommen Sie, werter Herr Overkamp. Ich begleite Sie zu Dr. Buddeus«, sagt Dr. Rose und scheint keinen Widerspruch zu dulden. »Das Unwetter scheint Richtung Bockenforde zu ziehen.«
Vor der Tür des Behandlungszimmers in der Soeststraße verabschiedet sich Dr. Rose und kündigt für die nächsten Tage seinen Besuch im Hause Overkamp an. »Ich glaube, wir sollten uns einmal unterhalten«, sagt er und geht. Sofort läuft Overkamp ein Schauer über den Rücken. Solche Unterhaltungen kennt er zur Genüge. Aber er kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Dr. Rose ihn erpressen will. Nein, wahrlich nicht.
»Legen Sie sich mal hier hin«, fordert Dr. Buddeus. »Das ist halb so schlimm. Aber ich werde es nähen müssen. – Eigentlich müsste ich Sie verbluten lassen. Sie schulden mir mittlerweile so viel Geld. Ich schaue gleich erst einmal, wie viel Reichstaler es schon sind.«
»Uuuuuaahhh!«, entfährt es Overkamp, als Dr. Buddeus den ersten Stich durch die Haut macht.
»Stellen Sie sich nicht so an. Das ist ja weibisch«, schimpft Dr. Buddeus.
Keine halbe Stunde später steht Ferdinand Overkamp wieder auf der Soeststraße. Seine Augenbraue ist mit fünf Stichen genäht worden. Was soll er nun machen? Schleunigst nach Hause gehen und die Begegnung mit dem Engerling vergessen? Oder zurück zum Festungswall? Vielleicht kann er seinen Plan doch noch zu Ende bringen. Oder ist der Engerling schon tot? Er hat sich ja nicht mehr bewegt.
Overkamp entschließt sich, nach Hause zu gehen, und kommt sich wie ein Feigling vor. Aber als ob nicht schon alles schlimm genug wäre, was ist, wenn der Engerling nicht tot ist? Noch nicht, berichtigt er sich selbst. Dann wird Engerling früher oder später zu ihm ins Kontor kommen, und dann wird es wirklich unschön. Schließlich weiß Engerling, dass sie sich auf dem Festungswall begegnet sind. Wieso gelingt ihm, Overkamp, wirklich gar nichts mehr? Früher konnte er machen, was er wollte, es klappte immer alles. Alles ging ihm leicht von der Hand. Und jetzt? Jetzt ist er von Gott verlassen.
119 Vgl.: Hagemann: Die Festung Lippstadt . 1985. S. 122.
19ter September 1765
Mehrere Tage lang geschieht nichts. Aber auch gar nichts. Ferdinand Overkamp sitzt im Kontor und rechnet jeden Augenblick mit dem Erscheinen Engerlings. Doch Engerling kommt nicht. Sollte er ihn doch getötet haben? Und wenn ja, dann muss ihn doch jemand gefunden haben. Gerade am Soest Tor ist viel los. Dort wird gebaut. Und wenn den Engerling jemand gefunden hätte, hätte doch Dr. Rose eins und eins zusammenzählen können; es wäre ein Leichtes, auf ihn als Mörder zu kommen. Mörder. Jetzt hatte er schon vier Menschen auf dem Gewissen. Die beiden unschuldigen Hirten, Köpner und Engerling. Weitere zwei – seine Söhne! – waren gestorben, weil er großes Unglück über die Familie gebracht hat. Und wie mag es
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